Wissenschaftler der Universität Leipzig beobachten seit 2002 durch regelmäßige Befragungen die Entwicklung von rechtsextremen und demokratiefeindlichen Einstellungen in Deutschland. Die Ergebnisse der neuesten Umfrage liegen nun vor.

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Die Ausländerfeindlichkeit hat in Deutschland laut einer Studie der Universität Leipzig in den vergangenen zwei Jahren abgenommen. Angestiegen ist hingegen nach Einschätzung der Forscher die Zahl der Anhänger von Verschwörungsmythen, "die oft genug einen kaum noch kaschierten Antisemitismus verraten".

Ende Oktober hatte der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Josef Schuster, im Interview mit unser Redaktion vor den gefährlichen Folgen von Verschwörungsmythen im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie gewarnt. "Sie entfalten ihre demokratiezersetzende und antisemitische Wirkung im Internet, sie zeigen sich auch bei Demonstrationen gegen die Corona-Maßnahmen", sagte Schuster.

Unter extremen Rechten ist zudem eine "Radikalisierung und Enthemmung" zu beobachten, wie aus der Studie hervorgeht. Und noch eine alarmierende Feststellung haben die Wissenschaftler gemacht: Während rechtsextreme Einstellungen im Westen zuletzt rückläufig waren, haben sie im Osten sogar wieder leicht zugenommen.

Verschwörungsmythen als Einstieg in den Rechtsextremismus

"In der Vergangenheit haben wir die Ausländerfeindlichkeit als Einstiegsdroge in den Rechtsextremismus bezeichnet, weil der Hass auf Migranten und Migrantinnen von vielen Menschen geteilt wurde", schreiben Oliver Decker und Elmar Brähler. Das sei noch immer richtig - "allerdings treten nun die Verschwörungsmythen hinzu".

Decker und Brähler stellen am Mittwoch in Berlin die 10. Leipziger Autoritarismus-Studie vor, die von der Grünen-nahen Heinrich-Böll-Stiftung und der gewerkschaftsnahen Otto-Brenner-Stiftung unterstützt wurde.

Auf den Demonstrationen von Corona-Skeptikern und -Leugnern gegen die staatlichen Einschränkungen zur Eindämmung der Pandemie manifestiert sich nach Ansicht der Wissenschaftler, "wie weit verbreitet die antidemokratische Orientierung in der Gesellschaft ist, auch wenn die Menschen keiner rechtsextremen Partei oder Organisation angehören".

Radikalisierung der Mitte

Problematisch sei dabei nicht die von den Demonstranten aufgeworfene Frage nach der Verhältnismäßigkeit der staatlichen Maßnahmen oder der Vorwurf einer Instrumentalisierung der Pandemie. Gefährlich sei vielmehr, dass einige von ihnen glauben, hier seien "verschiedenste geheime Organisationen am Werk, die aus dem Hintergrund das Geschehen lenken würden".

In der Studie heißt es weiter: "Während die einen eine 'Weltregierung' imaginieren, die einen 'Bevölkerungsaustausch' vorbereitet, sind für andere die 'Pharmalobby' oder gleich ganz offen die 'jüdischen Milliardäre' verantwortlich für die Pandemie."

Bereits vor der Coronakrise hatte der Thüringer Verfassungsschutzchef Stephan J. Kramer festgestellt, dass sich "zunehmend Teile unserer Bevölkerung in der Mittelschicht regelrecht radikalisiert" haben. "Sie versuchen jetzt, mit gewalttätigen Maßnahmen politische Diskussionen zu bestreiten", sagte Kramer im Interview mit unserer Redaktion.

Jeder dritte Deutsche glaubt an Verschwörungsmythen

Dass die Pandemie den Hang zu Verschwörungsmythen beeinflusst hat, zeigt ein Blick in die Vergangenheit. Während die Zahl der Menschen, bei denen die Forscher eine "Verschwörungsmentalität" erkannten, zwischen 2012 und 2018 von knapp 45 Prozent auf knapp 31 Prozent sank, stieg sie 2020 wieder an: auf 38,4 Prozent.

Zu einem ähnlichen Ergebnis kam auch eine im September veröffentlichte Studie der CDU-nahen Konrad-Adenauer-Stiftung.

Die aktuelle Untersuchung der Leipziger Forscher zeigt auch: Ost und West driften politisch immer weiter auseinander. Im Westen sank in den vergangenen zwei Jahren die Zahl der Menschen, bei denen die Forscher eine "manifest-geschlossene rechtsextreme Weltsicht" feststellten, von 5,2 Prozent auf drei Prozent.

Im Osten war dagegen im selben Zeitraum ein Anstieg von 8,5 Prozent auf 9,5 Prozent zu verzeichnen. Doch auch wenn damit fast jeder zehnte Ostdeutsche rechtsextreme Ansichten vertritt: Das liegt noch deutlich unter dem Höchstwert von 15,8 Prozent, den die Autoren der Langzeitstudie 2012 im Osten gemessen hatten.

Deutlich mehr Ost- als Westdeutsche denken ausländerfeindlich

Ausländerfeindliche Einstellungen äußerten laut Studie zuletzt 16,5 Prozent der Bevölkerung. Zwei Jahre zuvor lag der Anteil noch bei 23,4 Prozent. Ein Rückgang ist hier sowohl im Westen als auch auf dem Gebiet der ehemaligen DDR festzustellen. Im Osten tritt diese Denkweise allerdings doppelt so häufig auf als auf dem Gebiet der alten Bundesrepublik.

Während im Westen knapp 14 Prozent der Menschen ausländerfeindlich denken, sind es im Osten den Angaben zufolge aktuell fast 28 Prozent.

Für die Studie mit dem Titel "Autoritäre Dynamiken. Alte Ressentiments - neue Radikalität" waren im Mai und Juni dieses Jahres bundesweit 2.503 Menschen im Alter zwischen 14 und 93 Jahren befragt worden.

Wissenschaftler der Universität Leipzig beobachten seit 2002 die Entwicklung autoritärer und rechtsextremer Einstellungen in Deutschland. Um Ausländerfeindlichkeit zu messen, bitten die Forscher die Befragten, Aussagen wie "Die Ausländer kommen nur hierher, um unseren Sozialstaat auszunutzen" oder "Wenn Arbeitsplätze knapp werden, sollte man die Ausländer wieder in ihre Heimat zurückschicken" zu bewerten. (dpa/afp/mf)

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