Spätestens seit dem Mord an Walter Lübcke steht der Kampf gegen Rechtsextremismus weit oben auf der Agenda der Bundesregierung. Für Thüringens Verfassungsschutzchef Stephan J. Kramer ist langfristig aber nicht rechter Terror die größte Gefahr für unsere Gesellschaft, wie er im Interview erklärt.

Ein Interview

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Mehr als ein Dutzend Mitglieder der rechten Terrorzelle "Gruppe S" werden festgenommen, Bundesinnenminister Horst Seehofer verbietet die Neonazi-Organisation "Combat 18" sowie eine antisemitische Reichsbürger-Gruppe und der Verfassungsschutz stuft den AfD-"Flügel" als rechtsextremistische Bestrebung ein. Mehrere Meldungen innerhalb eines Monats zeigen: Deutschland scheint im Kampf gegen Rechtsextremismus durchzugreifen.

Doch an welche Grenzen stoßen die Behörden bei ihrem Vorgehen? Wo gibt es nach wie vor Nachholbedarf? Und geht der Verfassungsschutz einseitig vor?

Diese und weitere Fragen haben wir dem Präsidenten des Thüringer Verfassungsschutzes, Stephan J. Kramer, gestellt. Im Gespräch mit unserer Redaktion erklärt Kramer, wo er langfristig die größte Gefahr für unsere Gesellschaft sieht und welche Rolle dabei die Neue Rechte und die AfD spielen.

Nach den rassistisch motivierten Morden von Hanau erklärte Bundesinnenminister Horst Seehofer, dass vom Rechtsextremismus "derzeit die höchste Bedrohung für die Sicherheit im Land" ausgehe. Kommt diese Erkenntnis zu spät?

Stephan J. Kramer: Es ist nicht die Zeit für Vorhaltungen. Ich stimme aber der Feststellung von Minister Seehofer in vollem Umfang zu. Wir haben im Verbund des Verfassungsschutzes in den vergangenen Jahren und wiederholt nach dem Mord am Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke deutlich darauf hingewiesen, dass wir nicht nur eine Radikalisierung im Bereich Rechtsextremismus sehen, sondern ebenso Tendenzen zu rechtsterroristischen Strukturen. Ich betone seit Jahren, dass derzeit die größte Gefahr vom Rechtsextremismus ausgeht. Insofern: Besser spät als nie.

Nichtsdestotrotz konnte man den Eindruck gewinnen, dass bis zum Mord an Walter Lübcke das Thema Rechtsextremismus nicht im besonderen Fokus des Verfassungsschutzes oder des Innenministeriums stand – egal ob im Bund oder den Ländern.

Für die Ministerien kann und will ich nicht sprechen. Auf Länderebene hat sich der Verfassungsschutz schon frühzeitig mit dem gewaltbereiten Rechtsextremismus beschäftigt. Insbesondere seit den Erfahrungen mit dem NSU spielt dieses Thema – gerade in Thüringen – eine besondere Rolle. Man muss das Ganze aber auch im Verhältnis zu den islamistisch geprägten terroristischen Anschlägen sehen. Es war deshalb in der Tat so, dass einige Bundesbehörden den Fokus auf den Islamismus gelegt haben. Das Setzen von Schwerpunkten und Prioritäten ist jeweils Sache der Verfassungsschutzbehörden der Länder.

Einzeltäter aufspüren als große Herausforderung

Was ist bei Taten wie dem Mord an Walter Lübcke und den Anschlägen von Halle und Hanau die größte Herausforderung?

Da ist die Frage, wie wir sogenannte Einzeltäter aufspüren können. Wobei Einzeltäter missverständlich ist: Die Taten wurden zwar von einem Einzelnen verübt, aber der hat sich natürlich jeweils radikalisiert, sei es im Internet oder im direkten persönlichen Umfeld. Das zu erkennen, ist so ziemlich die größte Herausforderung. Einerseits wollen und können wir das Internet nicht absolut überwachen. Niemand will hierzulande einen Überwachungsstaat. Andererseits kommt dazu das Problem, die realen Personen hinter auffällig gewordenen Nutzern oder anonymen Postings auszumachen. Das ist schwierig, denn unsere personellen und technischen Möglichkeiten sind endlich. Zugleich warne ich davor zu glauben, dass dieser ganze Komplex nur die Aufgabe von Sicherheitsbehörden ist. So etwas kann nur im Zusammenspiel mit der Gesellschaft funktionieren. Hier spielt das soziale Umfeld eine ebenso große Rolle.

"Teile der Mittelschicht haben sich radikalisiert"

In einem Beitrag für "Die Zeit" – den Sie zusammen mit dem Soziologen Matthias Quent und Farhad Dilmaghani, dem Gründer einer Initiative, die sich für eine Einwanderungsgesellschaft engagiert, geschrieben haben – fordern Sie einen Masterplan gegen Rechtsextremismus. In dem Artikel bezeichnen Sie eine Regierungsübernahme der AfD als "größte Gefahr für die liberale Demokratie in Deutschland". Welche Rolle kann der Verfassungsschutz in diesem Zusammenhang dann einnehmen?

Der Masterplan ist ein gemeinschaftlich verfasster Text. Mir geht es um die Neue Rechte, die nicht mehr so neu ist. Diese Neue Rechte existiert parallel zum gewalttätigen Rechtsextremismus, wie wir ihn jüngst immer wieder erlebt haben. Sie hat mit ihrem "ideologischen Rechtsextremismus" seit Jahrzehnten sukzessiv soziale Räume erobert und diese mit ihren völkisch, nationalistischen Giften durchsetzt. Und diese Neue Rechte sehe ich als eine mindestens ebenso große Bedrohung wie den gewalttätigen Rechtsextremismus, vielleicht sogar noch ein Stück mehr.

Inwiefern?

Das wird jetzt manche Leute überraschen. Sie werden sich fragen, was es noch Schlimmeres geben kann, als wenn Blut fließt und Menschen verletzt oder sogar ermordet werden. Langfristig schlimmer ist die Zersetzung der Fundamente unserer offenen Gesellschaft und unserer Demokratie durch solch einen giftigen Spaltpilz, wie ihn die Neue Rechte darstellt.

Wie fließend ist aus Ihrer Sicht der Übergang von der AfD hin zu rechtsextremen und rassistischen Gewalttaten, wie wir es in Hanau oder auch in Halle gesehen haben?

Zur AfD sage ich in dieser Sache derzeit nichts. Wenn Sie mich aber nach der Neuen Rechten fragen, vielleicht so viel: Jeder hat wohl seit 2015 eine zunehmende Radikalisierung auch in der Mitte der Gesellschaft bemerkt. Diese Mitte hatte bis vor ein paar Jahren Gewalt als Mittel der Auseinandersetzung im politischen Diskurs eigentlich immer abgelehnt. Doch plötzlich gibt es eine Enthemmung und Anwendung von Gewalt innerhalb der Gesellschaft. Da ist es nun wirklich kein Hexenwerk darauf zu kommen, dass die politische Vergiftung mit Hassreden und Hetze ihre konkreten Wirkungen nicht verfehlt haben. Im Ergebnis haben sich zunehmend Teile unserer Bevölkerung in der Mittelschicht regelrecht radikalisiert. Sie versuchen jetzt, mit gewalttätigen Maßnahmen politische Diskussionen zu bestreiten. Eine Kausalität zwischen Hass und Hetzreden auf der einen Seite, sowie Gewalttätigkeiten gegen Menschen und Sachen auf der anderen kann heute niemand wirklich ernsthaft bestreiten.

"Wir haben einen 360-Grad-Blick!"

Gerade aus Reihen der AfD und von AfD-Anhängern wird Ihnen und generell dem Verfassungsschutz der Vorwurf gemacht, dass mit der Partei einseitig umgegangen wird.

Was heißt einseitig umgehen? Der Verfassungsschutz hat klare, gesetzliche Aufgaben. Wir sind keine Meinungspolizei und lassen uns auch nicht politisch instrumentalisieren. Wir brauchen uns nicht vorwerfen zu lassen, auf irgendeinem Auge blind zu sein – auch was den Bereich Linksextremismus angeht. Wir haben einen 360-Grad-Blick! Aber ich habe keine Lust, jedes Mal, wenn ich über Rechtsextremismus spreche, gleichzeitig auch über links reden zu müssen. Das wäre eine Verkennung der Realitäten und der Tatsachen.

Zurück zur AfD.

Wir haben innerhalb der Gesellschaft und den Medien sehr lange diskutiert, wie sich die AfD verortet und auf welchem Weg sich diese neue Partei befindet. Es haben Häutungen und Richtungswechsel innerhalb der AfD stattgefunden. Wir haben das als Verfassungsschutz sehr lange von außen betrachtet, bis wir uns dazu gezwungen sahen, die bekannten Anhaltspunkte gemäß unseres gesetzlichen Auftrags auf ihre Relevanz und Zurechenbarkeit hin zu überprüfen.

Weil Parteien die tragenden Säulen unserer Demokratie und unseres Rechtsstaates sind und daher einen besonderen Schutz nach Artikel 21 unseres Grundgesetzes genießen, war es mir wichtig, das auch öffentlich anzukündigen und zu begründen. Transparenz ist meiner Ansicht nach an dieser Stelle ganz wichtig. Das ist sehr kontrovers diskutiert worden. Ein Gericht hat in erster Instanz im Fall des Bundesamtes für Verfassungsschutz dann entschieden, dass es keine gute Idee war, diese Prüfung öffentlich zu machen.

Ich bleibe aber dabei: Für die Transparenz, die Ernsthaftigkeit und die Offenheit des politischen Diskurses war es richtig und wichtig, unsere begründeten Bedenken und unser Handeln offen darzustellen. Auch um dem Vorwurf entgegenzutreten, dass es hier nicht um eine Instrumentalisierung des Verfassungsschutzes im politischen Wettbewerb geht, sondern unsere ureigenste gesetzlich normierte Aufgabe. Nämlich über Bestrebungen gegen die freiheitlich demokratische Grundordnung frühzeitig aufzuklären und darauf hinzuweisen.

Und wenn die AfD weiter gerichtlich gegen die Aktivitäten des Verfassungsschutzes vorgeht?

Das ist in einem Rechtsstaat ihr gutes Recht und wir Behörden müssen unser Handeln auch der rechtlichen Kontrolle aussetzen. Am Ende werden wir sehen, wer vor Gericht Recht bekommt. Der ganzen Sache sehe ich aber sehr gelassen entgegen, weil wir unser Vorgehen fundiert begründet haben.

Stephan J. Kramer ist seit Ende 2015 Präsident des Amtes für Verfassungsschutz Thüringen. Davor war der 52-Jährige Generalsekretär des Zentralrates der Juden in Deutschland und leitete das Berliner Büro des European Jewish Congress. Kramer ist Mitglied der SPD.
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