Während der Corona-Pandemie ist es bereits zu zahlreichen Verschwörungsmythen gekommen. Wie aber kann es sein, dass sich diese entwickeln und verbreiten? Und wie geht man mit Menschen um, die so argumentieren? Wir sprachen mit einem Experten darüber.

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Verschwörungstheorien haben Konjunktur – gerade in Zeiten der Corona-Pandemie. Wie kommt es, dass Menschen auf Erklärungen zurückgreifen, die anderen abstrus erscheinen? Wir haben den Psychologen und anerkannten Experten für Verschwörungsmythen, Alexander Waschkau, befragt.

Herr Waschkau, der Glaube an abstruse Verschwörungstheorien scheint derzeit zuzunehmen. Wie kommt es, dass immer mehr Menschen es für möglich halten, dass – beispielsweise – Corona völlig ungefährlich und die Warnung vor der Pandemie eine Erfindung des "Finanzkapitals" sei?

Alexander Waschkau: Wir leben in einer komplizierten Welt, die von vielen Menschen nicht mehr adäquat verstanden wird. COVID-19 ist als zusätzliches Problem aufgetaucht, die Lage ist aktuell hyperkomplex. Wer sich schon vorher hilflos gefühlt hat, dem macht es ein solcher Mythos leichter, sich zurechtzufinden.

Es ist verwunderlich, dass auch Menschen mit hohem Bildungsgrad auf ganz abstruse Theorien hereinfallen.

Es ist ein verbreiteter Trugschluss, dass diese Neigung mit der Qualität der Ausbildung zu tun hat. In Wahrheit besteht da kaum ein Zusammenhang: Akademiker sind für Verschwörungsmythen genauso anfällig wie etwa Menschen aus nicht-akademischen Berufen.

Sie sprechen von "Mythen" – haben Sie etwas gegen den Begriff der Verschwörungstheorie?

Das Wort "Theorie" täuscht eine wissenschaftliche Herangehensweise vor und deutet an, man könne sie überprüfen und kritisch hinterfragen. Genau das wollen die Verschwörungsideologen nicht. Sie sind Gläubige, sie meinen, die gültige Wahrheit zu kennen. Der quasireligiöse Mythos ist etwas schwer Überprüfbares, aus der Vergangenheit Überliefertes – der Begriff passt viel besser für eine solche Einstellung.

Sie sagen, ein hoher Bildungsgrad schützt nicht vor Verschwörungsgläubigkeit. Wie ist es mit der politischen Einstellung?

Wichtig bei der Empfänglichkeit für Verschwörungsmythen ist die innere Einstellung. Wenn man ohnehin schon glaubt, dass die Globalisierung an allem Unglück Schuld hat, wenn man eh schon meint, dass "das Finanzkapital" die Welt regiert – dann nimmt man leichter ähnliche Themen als glaubwürdig wahr. Gegen solche Theorien sind auch Linke nicht immun – das rechte, populistische Spektrum scheint aber deutlich anfälliger für Verschwörungsmythen zu sein, da hier die Ablehnung des bestehenden freiheitlich-demokratischen Systems Programm ist.

Können Sie das näher erklären?

Zwei Aspekte scheinen mir ausschlaggebend: Zum einen neigen wir alle dazu, unsere Kompetenzen zu überschätzen. Wir glauben, dass wir besser als andere durchblicken und das Recht haben, uns ein Urteil erlauben zu können. Zum anderen leben wir tatsächlich in einer Welt sehr verflochtener Zusammenhänge: Die Globalisierung führt uns in schwer verständliche Abhängigkeiten, die moderne Medizin wird kontinuierlich komplexer, ebenso Wissenschaft und Politik. Vieles davon kann man selbst mit hohem Bildungsniveau nur oberflächlich oder gar nicht verstehen. Der Mensch neigt dazu, derartige komplizierte Unsicherheiten mit Komplexitätsreduktion zu beantworten: Er sucht nach einfachen Lösungen, nach einer klaren Trennung zwischen Gut und Böse. Diese beiden Aspekte – dass wir wenig verstehen, aber gleichzeitig unsere Kompetenz überschätzen – führt dazu, dass Anhänger von Verschwörungsmythen sich einerseits sicherer fühlen und andererseits an ihrer Überzeugung trotz Widerspruchs festhalten.

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Und das kommt Populisten entgegen?

Verschwörungsmythen bieten den Populisten simple Lösungen an, die sich einfach kommunizieren lassen: "Die Finanzmärkte sind an der Krise schuld", heißt es dann zum Beispiel. Und wenn das immer noch zu schwer verständlich erscheint, behauptet man, dass "ein paar reiche Familien" die Weltherrschaft ausüben.

Wie geht man mit Menschen um, die so argumentieren?

Auf keinen Fall darf man sie als Spinner bezeichnen – das hilft in keiner Debatte. Man muss sich vergegenwärtigen, dass es sich oft um Menschen mit großen Sorgen handelt, manchmal in echter Notlage. Sie empfinden, dass die Welt ihnen etwas Böses will. Man kann beispielsweise fragen, was geschehen oder bewiesen werden müsste, damit sie von ihrer Position abrücken würden. Da erhält man oft erstaunliche Antworten – und kommt so ins Gespräch. Wenn man ihnen dagegen mit wissenschaftlicher Literatur kommt oder mit dem Vorwurf der Dummheit, wird man als Teil des "Systems" identifiziert. Bei manchen ist allerdings das Weltbild so geschlossen, dass sie auf diese erste Frage keine Antwort geben können – dann ist man nahezu chancenlos.

Mit Argumenten dringt man nicht mehr zu diesen Menschen durch?

Oft sind es uralte Mythen, die da benutzt werden. Wenn zum Beispiel antijüdische Ideologien auftauchen, kann es sinnvoll sein, darauf hinzuweisen: "Du weißt schon, dass das uralte Geschichten sind, oder?" Gerade im privaten Umfeld sollte man die öffentliche Konfrontation meiden – jemanden in einer WhatsApp-Gruppe bloßzustellen oder anzugreifen, kann eher kontraproduktiv wirken. Man geht besser hier unter vier Augen – oder in einem eigenen Chat – auf die Ängste, Nöte und Sorgen der betreffenden Person ein.

Apropos WhatsApp: Sind die sozialen Medien mitverantwortlich für die Hochkonjunktur von Verschwörungsmythen?

Eindeutig ja! Dort verbreiten sich Informationen schnell wie eine Pandemie. Ein großes Problem sind geschlossene Gruppen wie WhatsApp oder Facebook – das sind Echokammern, in denen nur die eigene Meinung widerhallt. Es gibt keine Kritik und keine Informationen von außen mehr, das eigene Weltbild wird permanent verstärkt. Facebook will aber aktuell dieser Entwicklung begegnen. Der Konzern beginnt mit der Löschung von Gruppen und Beiträgen, die Verschwörungsmythen verbreiten.

Corona scheint vorüberzugehen – wird von diesen Verschwörungsmythen etwas zurückbleiben?

Das weiß ich nicht. Das weiß niemand.

Aber Sie haben Vermutungen.

Das ist richtig. Ich gehe davon aus, dass Verschwörungsmythen schon vor Corona Aufwind hatten. Wir leben in sehr unruhigen Zeiten, und in unruhigen Zeiten haben Esoterik und Verschwörungsmythen schon immer Auftrieb. Corona hat als Katalysator, als Verstärker dieser großen Unruhe gewirkt. Ich bin aber Optimist und baue darauf, dass die Herstellung eines Impfstoffes – durch Wissenschaft und nicht durch eine Verschwörung – möglicherweise eine gegensteuernde Wirkung entfalten kann. Hoffentlich sogar auf Dauer.

Alexander Waschkau, 44, ist Diplom-Psychologe. Zusammen mit seiner Ehefrau, der Kulturwissenschaftlerin Alexa Waschkau, betreibt er den Pod­cast "Hoaxilla", auf dem seit zehn Jahren und in mittlerweile mehr als 250 Folgen Verschwörungsmythen und "Moderne Sagen" aufgedeckt und diskutiert werden. Waschkau ist regelmäßig in Hörfunk und Fernsehen als Experte zu Verschwörungstheorien zu Gast.
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