Peter Neururer hat in seinen 65 Lebensjahren schon viel erlebt. Dennoch kann ihn immer noch etwas schrecken. Was das ist, über das kritisierte DFB-Team, die Bundesliga und den Fußball-Nachwuchs in Deutschland hat der Ex-Trainer mit uns gesprochen.

Ein Interview

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Die deutsche Nationalmannschaft steht derzeit massiv in der Kritik. Insbesondere Bundestrainer Jogi Löw. Wie bewerten Sie die aktuelle Situation?

Peter Neururer: Der Kritik an der DFB-Elf hat eindeutig damit zu tun, dass wir 2018 mit ganz, ganz großen Hoffnungen zur WM nach Russland gefahren sind und in einer Gruppe kläglich enttäuscht haben, durch die wir normalerweise hätten durchmarschieren müssen. Das klingt ein bisschen martialisch, aber mit unseren Ansprüchen hätten wir keinerlei Probleme haben dürfen.

Das war jedoch nicht der Fall. Deutschland schied als Viertplatzierter hinter Schweden, Mexiko und Südkorea aus.

Das hatte mit Fußball wenig zu tun, was wir da gespielt haben. Und daraus resultierend hat Jogi Löw zu einem Aktionismus gegriffen, den viele Experten vom Zeitpunkt her vielleicht angemessen fanden, aber die Art und Weise nicht nachvollziehen konnten.

Ohne Not wurden Mats Hummels, Jérôme Boateng und Thomas Müller aussortiert. Was soll das?

Der Bundestrainer sprach in diesem Zusammenhang von einem Umbruch.

Aber da muss sich ein Trainer erst mal die Grundfrage stellen: "Was will ich mit meiner Nationalmannschaft erreichen?"

Der Trainer möchte Spiele gewinnen. Das hat Löw geschafft, er hat sein Ziel erreicht und ist 2014 mit Deutschland Weltmeister geworden. Damals stand er logischerweise außerhalb jeglicher Kritik.

Doch was dann folgte, war nur noch Enttäuschung, Enttäuschung, Enttäuschung. Es wurden Situationen unterschätzt und falsch eingeordnet. Spieler wurden überschätzt.

Als Bundestrainer hat man die Möglichkeit, sich eine Mannschaft aus den besten Spielern einer Nation zusammenzustellen. Also möchte ich auch die derzeit besten in meinem Kader haben - und nicht die, die es in fünf Jahren sind.

Sie sind mit den zuletzt für den DFB nominierten Spieler nicht zufrieden?

Es gibt ein Grundprinzip, das ich einfach nicht verstehe. Irgendwann ist mal gesagt worden: "Wer im Verein nicht Leistungsträger ist, der spielt nicht für die Nationalmannschaft."

Doch wie sieht’s im Augenblick aus? Da laufen Spieler auf - zum Beispiel Nico Schulz, den ich für einen riesen Fußballer halte -, die im Verein auf der Bank oder auf der Tribüne sitzen. Auch ein Antonio Rüdiger. Wie kommt man auf die Idee, diese Spieler für die Nationalmannschaft zu berufen?

Aber Stammspieler wie Boateng, Hummels und Müller fehlen. Boateng ist der beste deutsche Abwehrspieler, hat mit dem FC Bayern alle Titel gewonnen und der DFB-Elf zusammen mit Hummels weltmeisterlichen Glanz verliehen und vor allem der Defensive Stabilität. Hinzu kommt Müller, der bei den Bayern-Erfolgen einer der Federführenden war.

In dem Zuge frage ich mich auch: Können sich Spieler wie Matthias Ginter, Lukas Klostermann, Rüdiger oder Leon Goretzka nicht besser entwickeln, wenn sie eingebettet sind in eine sichere Struktur? Oder können sie sich besser einbringen, wenn sie plötzlich Leistungsträger sein müssen?

Lothar Matthäus hat ebenfalls die Spielerauswahl des Bundestrainers kritisiert.

Ich gebe Matthäus recht. Auch die Zeit des Experimentierens war viel zu lang. Wir müssen einen Stamm finden, eine Spielphilosophie.

Wo sehen Sie denn derzeit die größten Probleme in der Nationalmannschaft?

Wenn ich mir das Defensivverhalten angucke, da wird mir schwindelig. Da frage ich mich: "Was besprechen die in der Sitzung?"

Als Beispiel: Gegen die Schweiz (in der Nations League, Anm. d. Red.) gab es einen Eckball gegen uns, in dessen Anschluss haben wir nach einer Kopfballabwehr umgeschaltet und sind herausgerückt. Aber wir hatten noch gar keinen Ballbesitz – und erst dann rücke ich raus, das lerne ich schon in der Kreisklasse.

Würden Sie sagen, Löw ist noch der richtige Trainer für die deutsche Nationalmannschaft?

Ich wüsste nicht, wer den Job ansonsten übernehmen sollte.

Wie schätzen Sie denn die Chancen der DFB-Elf bei der EM 2021 ein?

Wir haben in der deutschen Nationalmannschaft genügend Spieler mit Weltklasse -Qualität. Aber wenn es so läuft wie im Augenblick, dann sehe ich gar keine Chance.

Und wenn die EM wieder kein Erfolg wird, dann wird es auch für Löw böse. Dann gerät mit einem Schlag das, was Löw mit der Nationalmannschaft erreicht hat, in Vergessenheit. Das fände ich traurig - aber so denkt der Deutsche, der denkt zuerst an die schlechten Sachen, denn die bleiben haften.

Unser Anspruch aber sollte sein - gerade mit Blick auf die Heimspiele in München -, das Halbfinale zu erreichen. Wenn nicht sogar das Finale.

Viele Fans haben keine Lust auf die Nations League. Bei Experten steht sie in der Kritik. Bei Ihnen auch?

Für mich ist die Nations League wirklich unsäglich. Keiner - außer den Leuten, die damit Geld verdienen -, weiß, was wir von diesem Wettbewerb haben. Und vor allem, wie er der Nationalmannschaft helfen soll.

Die Spieler müssen wegen der Coronakrise extrem viele Spiele in einem kurzen Zeitraum absolvieren - und müssten dementsprechend regenerieren. Stattdessen müssen sie in einem erschöpften Zustand für die Nationalmannschaft spielen.

Beim DFB hatten wir zuletzt auch viele Diskussionen um den Nachwuchs, der nicht gut genug sei. Wie sehen Sie das?

Wir haben unglaubliche Talente bei uns in Deutschland. Wir haben immer noch ein unglaublich starkes, festes Gerüst.

Aber wenn man sich zum Beispiel den FC Bayern anschaut, da war David Alaba der letzte, der sich bei den Profis aus der Jugend kommend, festgespielt hat. Das ist mittlerweile neun Jahre her – und Alaba ist Österreicher. Warum hat der Nachwuchs keine Chance bei den Top-Teams?

Die jungen Spieler werden abgegeben, weil sie auf dem höchsten internationalen Niveau noch nicht standhalten können. Und im Vergleich zu früher haben sich auch die Ansprüche geändert. Es geht um kurzfristigen Erfolg.

Stichwort Erfolg: Von dem ist der FC Schalke derzeit ganz weit entfernt. Steigen die Königsblauen in dieser Saison ab?

Ich hoffe nicht.

Sie hoffen nicht? Aber was glauben Sie?

Glauben tue ich im Fußball schon seit langer Zeit nicht mehr. Als Mitglied des Vereins hoffe ich, dass der FC Schalke in der Bundesliga bleibt und die Fehler, die gemacht wurden, aufgearbeitet werden.

Aber auf Schalke sieht es aktuell ganz schlecht aus. Spieler, die im vergangenen Jahr verliehen worden waren, sind jetzt wieder da und sollen Leistungsträger sein.

Dann wurde David Wagner zu einem katastrophalen Zeitpunkt entlassen. Wenn ich einen neuen Trainer einstelle, dann in der Vorbereitung, aber nicht nach zwei Spieltagen. Das ist Wahnsinn. Und dann legt der neue Trainer gegen RB Leipzig los - ein Spiel, bei dem ich davon ausgehen muss, dass ich es verliere. Na herzlichen Glückwunsch!

Wie sieht es denn mit Ihnen aus? Wären Sie im Falle eines Anrufs gerüstet?

Trainer in Deutschland mache ich nicht mehr. Da habe ich meine Bedenken, wie sich die Situation in den vergangenen Jahren entwickelt hat: Sobald es irgendwo eine Krise gibt, wird der Trainer ausgetauscht.

Warum sehen wir sie dann nicht im Ausland an der Seitenlinie stehen?

Wir führen zwei, drei Gespräche im Ausland. Es ist durchaus möglich, dass da etwas passiert.

Aber ich bin ehrlich: Ich gehöre nicht zu den Menschen, die ins Ausland gehen, um eine neue Sprache zu lernen. Es geht um eine sinnvolle Aufgabe, die zu meinen Fähigkeiten passt und entsprechend bezahlt werden muss.

Sie sind inzwischen 65 Jahre alt, haben 1983 in einer Nacht mal 120.000 D-Mark verzockt, sind 2004 wegen des Luftlochs eines Spielers in letzter Minute aus dem UEFA-Cup ausgeschieden und 2012 bei einem Herzinfarkt dem Tod von der Schippe gesprungen. Kann Sie noch irgendetwas schrecken?

Ja, die Unehrlichkeit von irgendwelchen Menschen - gerade im Fußballgeschäft.

Zur Person: Peter Neururer, 1955 in Marl geboren, ist ehemaliger Bundesliga-Trainer, stand unter anderem beim VfL Bochum und Hannover 96 an der Seitenlinie. Heute ist er als Experte tätig.
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