Über die Wahl, deren Ergebnisse und über die Schlüsse daraus wollte Anne Will am Sonntagabend diskutieren. Das tat sie auch, doch das Nachwahlgeplänkel war das Uninteressanteste an diesem Abend. Viel interessanter war da die Offenlegung der Diskrepanz zwischen dem alten und dem neuen Verständnis von Politik.

Christian Vock
Eine Kritik
Diese Kritik stellt die Sicht des Autors dar. Hier finden Sie Informationen dazu, wie wir mit Meinungen in Texten umgehen.

Mehr aktuelle News

Die Würfel sind gefallen. In Nordrhein-Westfalen haben die Bürger entschieden und der CDU die Mehrheit beschert. Aus dem Kopf-an-Kopf-Rennen wurde nichts, denn die SPD hat über vier Prozentpunkte verloren und die CDU fast drei Prozentpunkte gewonnen. Die größten Zugewinne haben mit fast zwölf Prozentpunkten die Grünen, für FDP und AfD stand sogar der Sprung über die Fünf-Prozent-Hürde kurz zur Diskussion. Nun also machte Anne Will am Sonntagabend die erste Nachwahlbetrachtung.

Mit diesen Gästen diskutierte Anne Will:

Lars Klingbeil: Der SPD-Parteivorsitzende sieht nun Hendrik Wüst als Sieger der Wahl am Zug. Er müsse nun "Gespräche führen und dann werden wir sehen, ob er eine Regierung bilden kann." Aber in diesen Gesprächen müsse man sehen: "Passt es vom Inhalt her?" "Wir kämpfen als SPD zusammen", erklärt Klingbeil, als Will ihn nach dem Einfluss von Olaf Scholz auf den Wahlkampf befragt.

Ricarda Lang: Für die Bundesvorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen ist für die Koalitionsbildung in NRW entscheidend, welche Partei den Mut für eine echte Transformation hat: "Uns geht’s um nichts weniger, als diese Industrieregion zur ersten klimaneutralen Industrieregion in ganz Europa zu machen." Die Bundespolitik sei hier nicht relevant, es gehe darum, "eine Zukunftsregierung zu bilden, die Herausforderungen anpackt."

Christian Dürr: Der Vorsitzender der FDP-Bundestagsfraktion beschönigt nichts: "Für die FDP ist das eine bittere Wahlniederlage." Auch für Dürr ist klar: "Der Regierungsauftrag ist bei Hendrik Wüst."

Jens Spahn (CDU): Für den ehemaligen Gesundheitsminister gibt es zwei klare Wahlsieger: die CDU und die Grünen. Bei der Ampel-Koalition in Berlin sieht er bereits seit Dezember ständige Risse.

Mariam Lau: Die politische Korrespondentin der "ZEIT" glaubt, dass das NRW-Ergebnis ein "Denkzettel für die Ampel" ist und "eine Ansage zu Olaf Scholz". Dem Kanzler wirft Lau eine Arroganz im Auftreten vor. Beim Herumfahren in NRW empfand sie es ermutigend, dass die Leute "die Methode Habeck: Ich mache meine Zweifel öffentlich, ich mache die schlechten Nachrichten öffentlich. Dass die Leute diese Ansprache für Erwachsene zu schätzen wissen."

Der Schlagabtausch des Abends:

Spahn gegen den Rest der Welt. Nun muss man anerkennen, dass es nicht die Aufgabe von Jens Spahn ist, die Regierung zu beklatschen – ganz im Gegenteil. Hauptaufgabe der Opposition ist es, den Regierenden auf die Finger zu gucken. Jens Spahn guckt am Sonntagabend aber nicht auf die Finger, er versucht zu spalten, den Vertretern der Ampel, aber noch mehr den Zuschauern Uneinigkeit in der Regierung einzureden.

"Die SPD sagt den ganzen Abend, die FDP sei der Wahlverlierer des Abends und hat einen ganzen Kübel Häme für den Ampelpartner in Berlin parat", behauptet Spahn zwischendurch zum Beispiel, doch Christian Dürr stellt nach der Erklärung Klingbeils klar: "Ich hab’s auch nicht als Häme empfunden heute Abend."

An anderer Stelle erklärt Spahn, wie beeindruckt er bis Dezember des Vorjahres von der Harmonie der Ampel-Koalition gewesen sei, doch seitdem gebe es viel Risse. An wieder anderer Stelle versucht es Spahn mit einer anderen Methode: Die SPD habe während der Groko immer behauptet, man könne als Juniorpartner nicht gewinnen. Nun zeige der aktuelle Juniorpartner, die Grünen, dass man sehr wohl gewinnen könne.

So schlug sich Anne Will:

Anne Will fordert von Klingbeil, Lang und Dürr mehrmals an diesem Abend eine Antwort auf die Frage, nach welcher übergeordneten Idee die Ampel-Regierung für Entlastung bei den Bürgern sorgen möchte. Das ist ihr gutes Recht, man hätte sich aber gewünscht, dass Will selbst so etwas wie eine übergeordnete Idee für ihre Sendung gehabt hätte. Doch stattdessen diskutierte man am Sonntagabend unter dem Titel "Nach der Wahl in NRW" – was thematisch alles zulässt.

Eine kleine Präzisierung nahm Will dann aber doch vor. Die NRW-Wahl betrachten wolle sie und dabei der Frage nachgehen, ob es eine "Abrechnung mit der Bundespolitik war" und "was aus dem Ganzen eigentlich jetzt folgt". Das klingt auf dem Papier nach einem Plan, in der Praxis kommt es dann aber einfach nur darauf an, wen man fragt und mit welcher Überzeugung er oder sie die Antwort vorträgt. Wenig überraschend kommt hier relativ wenig Belastbares raus.

Trotzdem präsentiert sich Anne Will besonders kampfeslustig an diesen Abend. Ein bisschen zu kampfeslustig, denn bei all dem Eifer geht dann doch hin- und wieder die Präzision ihrer Konfrontation flöten. Etwa, als Lars Klingbeil erklärt: "Es gibt ein klares Bekenntnis der NRW-SPD zu Olaf Scholz. Das zeigen übrigens auch die Befragungen, dass er dort hohe Beliebtheitswerte hat."

"Nein, das zeigen die Befragungen gerade nicht", wirft Will ein und zeigt eine Vorwahlumfrage in NRW, nach der nur 35 Prozent der Befragten sagen: "Olaf Scholz ist für die SPD in NRW eine große Unterstützung." Doch das widerspricht der Aussage von Klingbeil gar nicht, denn der sprach nur von der NRW-SPD und nicht von den Wählern insgesamt. Was Will zudem nicht sagt, ist, dass bei derselben Umfrage auch nur 36 Prozent der Ansicht waren, Friedrich Merz sei für seine Partei in NRW eine große Unterstützung. Bei Habeck und den Grünen beziehungsweise bei Linder und der FDP waren es hingegen über 50 Prozent.

Auch an anderer Stelle arbeitet die Redaktion von "Anne Will" zumindest diskussionswürdig. Als in einem Einspieler das Entlastungspaket vorgestellt wird, ordnet die Redaktion einzelne Punkte den Parteien zu: Erhöhung der Fernpendlerpauschale und den Tankrabatt für die FDP, das 9-Euro-Ticket für die Grünen, Zuschüsse zur Grundsicherung, Kinderbonus und Energiepauschale für die SPD. Da kritisiert Ricarda Lang zu Recht das Arbeiten mit Klischees. Sie selbst habe sich zum Beispiel vor allem für ein Energiegeld und für die Erhöhung der Grundsicherung eingesetzt.

Das Fazit:

Es beginnt am Sonntagabend bei "Anne Will" wie das typische Nachwahlgeplänkel, auf das Polittalkshows und deren Gäste offenbar immer noch nicht verzichten wollen – ob es dem Zuschauer etwas nützt oder nicht. Wer warum wem Stimmen abgenommen hat, ob die Bundespolitik für die Landtagswahl verantwortlich ist oder nicht – all das ist interessant für parteiinterne Wahlkampfanalysen, für den Zuschauer aber nicht. Noch dazu, weil man in einer Polittalkshow ohnehin keine belastbaren Antworten darauf finden kann.

Es war aber trotzdem kein verlorener Abend, denn er zeigte Erkenntnisse auf einem ganz anderen Feld. Nämlich, wie sehr sich offenbar mit der Ampel Politikmachen und Politikkommunikation geändert haben. Denn während Jens Spahn nach den ihm bekannten Gesetzen immer noch in den alten Kategorien von Gewinnen und Verlieren, selbst innerhalb einer Koalition denkt, scheinen Grüne, SPD und FDP hier in der Tat weiter – und zwar glaubhaft.

Denn hier wird Uneinigkeit nicht im Spahnschen Sinn als Schwäche verstanden, sondern als Bereicherung. Ja, man darf sich uneinig sein, aber es gibt wesentlich Wichtigeres als parteipolitische Spielchen, wie Christian Dürr erklärt. Man habe drei sehr unterschiedliche Parteien und mache daraus auch kein Geheimnis. Aber man habe ganz zentrale Projekte definiert, "die mit Verlaub, Jens Spahn, bei der CDU-geführten Bundesregierung in den letzten 16 Jahren alle liegen geblieben sind. Und das hält schon zusammen – bei aller Unterschiedlichkeit in der Sache."

In der Tat: Egal, welches Parteibuch man hat: Die vergangenen Merkel-Jahre, und auch die davor, waren vor allem von Mutlosigkeit geprägt, das Land auf die Zukunft vorzubereiten: Klimakrise, Transformation der Landwirtschaft, Digitalisierung oder natürlich die Abhängigkeit von Russland, um nur ein paar Felder zu nennen. Ob die Arbeit der Ampel ausreicht, wird man sehen, aber immerhin hat sie die Dringlichkeit erkannt und nennt die Probleme beim Namen.

"Wir stehen vor dramatischen Entscheidungen. Das Alte kommt nicht wieder zurück. Die gesamte geopolitische Situation wird sich komplett ändern", erklärt etwa Christian Dürr und zeigt, wie bisher mit solch dramatischen Entscheidungen umgegangen wurde: "Ich anerkenne, dass Jens Spahn in der großen Koalition sozialisiert ist und dort Bundesminister war. Da hat man sich öffentlich gestritten und danach nichts entschieden, das Land nicht vorangebracht."

Ob die Ampel ihre eigenen Versprechen hält und wirklich einen neuen Politikstil praktiziert, damit eben doch etwas vorangeht, das muss sie jetzt beweisen. Aber sich der Probleme bewusst zu sein und sie wie am Sonntagabend bei "Anne Will" nach außen zu kommunizieren, sind schon einmal ein guter Anfang. Besser jedenfalls, als weiterhin nichts zu tun.

Lesen Sie auch: Experte: Günther-Erfolg in Schleswig-Holstein "wirft für die CDU Fragen auf"

Interessiert Sie, wie unsere Redaktion arbeitet? In unserer Rubrik "So arbeitet die Redaktion" finden Sie unter anderem Informationen dazu, wann und worüber wir berichten, wie wir mit Fehlern umgehen und woher unsere Inhalte kommen. Unsere Berichterstattung findet in Übereinstimmung mit den JTI-Standards der Journalism Trust Initiative statt.

JTI zertifiziert JTI zertifiziert

"So arbeitet die Redaktion" informiert Sie, wann und worüber wir berichten, wie wir mit Fehlern umgehen und woher unsere Inhalte stammen. Bei der Berichterstattung halten wir uns an die Richtlinien der Journalism Trust Initiative.