Rätselraten nach den US-Wahlen: Welchen Kurs schlägt die amerikanische Regierung in ihrer Handels- und Industriepolitik ein und welchen im Ukraine-Krieg? Und wie sollten sich Deutschland und Europa zwischen den beiden Wirtschaftsmächten USA und China positionieren? Eine Menge Fragen für Maybrit Illner und ihre Gäste am Donnerstagabend. Aber glücklicherweise gab es auch eine Menge Antworten – und eine eindringliche Warnung.

Christian Vock
Eine Kritik
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Die Vereinigten Staaten haben gewählt, doch endgültige Ergebnisse gibt es noch keine, erst recht keine Gewissheit, was sich nach den amerikanischen Midterms nun für Deutschland, für Deutschlands Wirtschaft und für Deutschlands Verhältnis zu den USA ändert. Dementsprechend fragt Maybrit Illner am Donnerstagabend: "Amerikas Egoismus – Deutschlands Dilemma?"

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Mit diesen Gästen diskutierte Maybrit Illner:

  • Ulrike Malmendier, "Wirtschaftsweise" und Inflationsexpertin an der US-Universität Berkeley
  • Helene Bubrowski, Journalistin der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung"
  • Lars Klingbeil (SPD), Parteivorsitzender
  • Christian Lindner (FDP), Bundesfinanzminister
  • Peter Rough, Mitglied der Republikanischen Partei und Politikberater (zugeschaltet)

Die Themen des Abends:

"Welchen Weg soll Deutschland gehen zwischen Bündnistreue und Eigennutz?", fragt Maybrit Illner zum Einstieg und nimmt mit Blick auf die US-Wahlen erst einmal eine Bestandsaufnahme vor. Es werde, so wirft Illner als Stichwort in die Runde, ungemütlicher werden für Deutschland. Christian Lindner sieht bei den Wahlen keinen klaren Gewinner oder Verlierer: "Für mich ist die Konsequenz daraus, dass die Vereinigten Staaten in der nächsten Zeit schwer berechenbar sein werden." Deshalb, so Lindner, müsse man selbst umso klarer in den eigenen strategischen Entscheidungen sein.

Egal, wie die Mehrheitsverhältnisse aussehen werden, so orakelt Illner, werden Europa und Deutschland im Ukraine-Krieg mehr zahlen müssen. Für Lars Klingbeil ist das keine Überraschung, diese Forderung gebe es ja seit längerem. Man werde mehr tun und habe das bereits, aber nicht weil es die USA wollen, sondern weil man es selbst wolle: "Wir wollen viel souveräner, selbstbewusster, auch deutlicher auftreten, unsere Interessen definieren. Ich halte das für ganz wichtig, dass wir uns bewusst werden: Wie positionieren wir uns eigentlich auf der weltpolitischen Karte, weil wir nicht wissen, was nach 2024 passiert, wer dann im Weißen Haus sitzt."

Ulrike Malmendier hält den Ausgang der Wahlen in Bezug auf die Unterstützung der Ukraine durch die USA für nicht so entscheidend: "Ich bin nicht davon überzeugt, dass jetzt die große Änderung kommt." Auch Christian Lindner sieht hier nach den Gesprächen mit seiner amerikanischen Amtskollegin "keine Anzeichen, dass die Vereinigten Staaten ihre Politik in Bezug auf die Ukraine verändern." Peter Rough verweist in diesem Zusammenhang auch auf die amerikanische Verfassung: "Ich darf da beruhigen: Laut dem amerikanischen System und Artikel zwei der Verfassung ist der amerikanische Präsident in der Außenpolitik einfach am Ruder."

Vom Krieg in der Ukraine kommt der Schwenk zur Handelspolitik und der Frage, ob die Sanktionen und die hohen Energiepreise in Europa ein Wettbewerbsvorteil für die USA seien. Ulrike Malmendier glaubt an eine aktuelle Zäsur auf geopolitischer Ebene, aber auch in Bezug auf die Wirtschaftspolitik. Man werde nicht mehr zu den Energiepreisen zurückkehren: "Es wird langfristige Nachteile für die deutsche Industrie geben." Gleichzeitig müsse man die Lehre aus der Vergangenheit ziehen und sich unabhängiger und breiter aufstellen: "Das ist dann im ersten Moment mal teuer." Im ersten Moment, aber Malmendier blickt in die Zukunft: "Aber ich glaube, langfristig wird es sich auszahlen."

Doch neben den niedrigeren Energiepreisen, hätten, so Illner, die USA gerade noch einen weiteren Wettbewerbsvorteil: einen 430 Milliarden schweren Schutzschirm. Was also tun? Während Emanuel Macron im Gegenzug europäische Produzenten schützen will, möchte Christian Lindner anders agieren. Einerseits "nicht dieses 'Wie du mir, so ich dir!'" Andererseits solle man den eigenen Standort wettbewerbsfähiger machen: "Planungs- und Genehmigungsverfahren, Infrastruktur, digitale öffentliche Verwaltung, Einwanderungsgesetz, bezahlbare Energie und so weiter und so fort."

Zudem solle man mit den USA "erstmal sprechen", denn die hätten bereits den Begriff "friendshoring" ins Spiel gebracht, wonach Handel bevorzugt mit Staaten gemacht werde, die die gleichen Werte teilen. Man solle die USA hier bei der gemeinsamen Herausforderung China einfach beim Wort nehmen. Lars Klingbeil sieht das im Grunde ähnlich, ergänzt aber, dass man sich bewusst machen solle, "was wir mit 27 europäischen Staaten alles erreichen können". Wenn man die eigenen Ziele wie bei Erneuerbaren Energien oder einem Einwanderungsgesetz umsetze, "dann kann das hier ein wunderbarer Standort werden", so Klingbeil.

Die Ankündigung des Abends bei "Maybrit Illner":

Als es um die finanzielle Unterstützung der Ukraine geht, fragt Illner nach dem monatlichen Finanzbedarf des Landes. Den beziffert Christian Lindner auf etwa drei Milliarden US-Dollar und erklärt, wie die Ukraine dabei unterstützt werden kann. Die Europäische Union, nicht Deutschland alleine, werden einen Anteil übernehmen und zwar in der Größenordnung von etwa 1,5 Milliarden Euro und durch "langfristige Kredite der Europäischen Union".

Dafür werde man ein europäisches Verfahren entwickeln. Denn, "das kam ja alles über uns", so Lindner und deshalb wolle man das bisher "improvisierte Verfahren" durch "einen planbaren, nachhaltigen, regelbasierten Mechanismus" ersetzen. Dadurch müsse man bei der Suche nach finanzieller Unterstützung nicht immer wieder bei Null anfangen.

Der Seitenhieb des Abends:

Beim Thema Protektionismus holt Helene Bubrowski die Vergangenheit hervor: "Das Problem ist natürlich, dass uns die Handelspolitik, die Nicht-Handelspolitik, der vergangenen Jahre auf die Füße fällt", erklärt Bubrowski und meint damit das Freihandelsabkommen TTIP, bei dem es aus Deutschland Widerstand gegeben habe. "Eine vollkommen heuchlerische Position war das schon damals", meint Bubrowski und stellt fest, dass es in der aktuellen Koalition immer noch "Freihandelskritiker bis -gegner" gebe.

Dazu erklärt Christian Lindner: "Es ist ja kein Geheimnis, dass es innerhalb der Bundesregierung auch unterschiedliche Nuancen gibt. Aus der SPD höre ich Stimmen, die einen neuen Anlauf für transatlantischen Freihandel wollen. Unsere Kolleginnen und Kollegen von den Grünen haben noch", beginnt Lindner und legt dann eine Kunstpause ein, ehe er fortfährt: "Reflexionsbedarf".

Vielleicht war diese Wortwahl nur ein misslungener Witz, vielleicht aber auch einfach eine kalkulierte Provokation. Aber wenn Christian Lindner den Grünen "Reflexionsbedarf" attestiert, wirkt das doch reichlich überheblich, nach dem Motto "Wenn die Grünen nur noch ein bisschen mehr nachdenken, kommen sie schon darauf, dass ich, Christian Lindner, Recht habe." Gleichzeitig wischt der Satz die Tatsache beiseite, dass es ja auch Gründe gibt, die gegen die Abkommen TTIP oder CETA sprechen und gesprochen haben. Da scheint der eigene Anspruch, den die Koalition – und damit auch Lindner und die FDP – nach den Bundestagswahlen formuliert hat, einen anderen politischen Umgang miteinander zu pflegen, weit entfernt.

Der Schlagabtausch des Abends:

Insgesamt war es eine gesittete Diskussion, wenn überhaupt geht der Schlagabtausch des Abends an Helene Bubrowski und Lars Klingbeil. Der SPD-Chef erklärt, dass man sich schon genau ansehen müsse, was die Amerikaner an Subventionspolitik machen und daraus Konsequenzen ziehen. Hier habe die Bundesregierung in puncto Industrie- und Energiepolitik gehandelt, die Kritik der europäischen Partner daran sei "stark überzogen" gewesen.

An dieser Stelle geht Bubrowski dazwischen: "Aber warum musste es überhaupt so weit kommen?", fragt die Journalistin Klingbeil. So eine "Germany first"-Politik sei falsch, auch in einer Krise: "Immer wenn die Ängste größer werden, guckt man erstmal auf das eigene Land", kritisiert Bubrowski. Man solle das zumindest einmal an die europäischen Länder kommunizieren.

Dazu erklärt Klingbeil: "Man ruft doch nicht vorher bei den europäischen Partnern an, sondern einigt sich erstmal in der Koalition. Das ist passiert und dann sind die Partner eingebunden worden", sagt Klingbeil, vergrößert damit aber nur die Irritationen bei Bubrowski: "Finde ich jetzt eine interessante Definition von Solidarität. Wenn das die deutsche Presse eher weiß als die französische Regierung, dann finde ich, ist das ein Problem."

Die Warnung des Abends:

Natürlich geht es in der Diskussion über die richtige Handels- und Wirtschaftspolitik Deutschlands auch um China und hier erklärt Peter Rough "Ich würde vielleicht einfach nur warnen, wenn es zwischen Washington und Peking Streitigkeiten gibt, und das ist jetzt vorprogrammiert, wahrscheinlich für Jahrzehnte, wird in Peking Zuckerbrot für Deutschland gebacken." Hier möchte Rough aus Erfahrung warnen, dass dies zwar verlockend sei, "aber irgendwann einmal kommt dann auch die chinesische Peitsche".

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Das Fazit:

Es war eine angenehm sachliche Diskussion mit fast keinen parteipolitischen Mätzchen, die eine schlechte und zwei gute Nachrichten bereithielt. Die schlechte Nachricht: Deutschland und Europa befinden sich zumindest aktuell angesichts der Energiekrise in einem Wettbewerbsnachteil gegenüber den USA.

Die gute Nachricht: Das muss ja nicht so bleiben. Denn auch hier hielt die Runde ein paar Lösungsansätze parat: Stärkung der eigenen Wettbewerbsfähigkeit durch den Ausbau der Erneuerbaren Energien, Modernisierung, Digitalisierung, Ausbau der Infrastruktur, ein gemeinsames europäisches Auftreten, Verringerung von Abhängigkeiten durch Diversifizierung von Absatzmärkten und Beschaffung und der Dialog mit den Amerikanern, aber mit mehr Autonomie und nicht nur "Friendshoring". Die zweite gute Nachricht: Viel schlechter als in den vergangenen Jahren kann man es hier kaum machen.

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