• Als Partei- und Fraktionschef war Christian Lindner in den Medien dauerpräsent. Als Finanzminister ist er jetzt weniger sichtbar.
  • Der FDP-Politiker hat sich einen schwierigen Job eingehandelt: Er muss seinen Partnern SPD und Grünen gerecht werden und der Ampel-Koalition gleichzeitig eine liberale Handschrift verpassen.
  • Die Opposition stichelt bereits: Wo ist der alte Christian Lindner geblieben?
Eine Analyse
Dieser Text enthält eine Einordnung aktueller Ereignisse, in die neben Daten und Fakten auch die Einschätzungen des Autors bzw. der zu Wort kommenden Experten und Expertinnen einfließen. Hier finden Sie Informationen über die verschiedenen journalistischen Textarten.

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In den vergangenen Wochen hat sich Deutschland einen Spaß gemacht mit der Frage: Wo ist Olaf? Bundeskanzler Olaf Scholz wurde in der öffentlichen Debatte immer wieder vermisst. Weniger häufig erklang die Frage: Wo ist Christian? Dabei wäre auch sie angebracht.

Es ist nicht so, dass Bundesfinanzminister Christian Lindner abgetaucht wäre. Er twittert, er gibt Interviews, er konferiert mit Amtskollegen aus dem Ausland. Aber das öffentliche Bild der Ampel-Koalition prägen derzeit andere: Gesundheitsminister Karl Lauterbach müht sich mit der Pandemie-Bekämpfung, Außenministerin Annalena Baerbock jettet um die Welt. Selbst innerhalb der FDP wirken Justizminister Marco Buschmann und Chef-Impfpflicht-Gegner Wolfgang Kubicki präsenter als der Finanzminister.

FDP-Frontmann Lindner hat in den vergangenen Monaten eine Wandlung durchgemacht. Vom dauerpräsenten, vielleicht etwas besserwisserischen Oppositionellen zum ausgleichenden Staatsmann. Er hat um das Finanzministerium gekämpft und sich damit eine knifflige Aufgabe eingehandelt. Auch das erklärt, warum er zurzeit vor allem im Hintergrund wirkt. Lindner muss mehrere, teils widersprüchliche Rollen ausfüllen. Ein Überblick.

Der Kassenwart

Lindner hat ohne Regierungserfahrung das vielleicht wichtigste Ressort übernommen. "Das Finanzministerium ist kein Ministerium wie jedes andere und erfordert nach innen wie außen besonderes Fingerspitzengefühl. Christian Lindner hat sich das als neuer Finanzminister erfreulich schnell angeeignet", sagt sein Parteifreund Markus Herbrand im Gespräch mit unserer Redaktion. Der Bundestagsabgeordnete ist finanzpolitischer Sprecher der FDP-Fraktion.

Arbeit gibt es in diesen Tagen reichlich: Das Finanzministerium muss den Haushalt für das laufende Jahr aufstellen, den Linder am 9. März im Kabinett und der Öffentlichkeit vorstellen will. Eine undankbare Aufgabe, bei der man es nie jedem recht machen kann. Lindner hat sich gerade darüber beklagt, dass seine Kabinettskollegen und -kolleginnen zu teure Ansprüche angemeldet hätten. "Der Wunsch der Fachpolitiker nach höheren Ausgaben in ihrem Gebiet ist ungebrochen", sagt Markus Herbrand. "Da wird sich Christian Lindner auch mal unbeliebt machen müssen. Die Finanzpolitik ist eine Herkulesaufgabe."

Für die amtierende Regierung gilt das besonders – und das hat auch mit Lindners Liberalen zu tun. Die Ampel-Koalition verspricht einerseits massive Zukunftsinvestitionen: in Bildung und Sozialleistungen, Klimaschutz und marode Infrastruktur. Die FDP pocht darauf, dass diese Investitionen nicht mit höheren Steuern und neuen Schulden finanziert werden. Beides zusammenzubringen ist ein Kunststück, das maßgeblich Lindner vollbringen muss.

Der liberale Parteichef

Für die FDP ist die Ampel-Koalition ein Risiko. SPD und Grüne waren politische Gegner, stehen vor allem in der Wirtschafts- und Finanzpolitik für eine andere Linie, setzen stärker auf den Staat und hätten die Steuern für Spitzenverdienende gerne erhöht. Als Oppositionspolitiker hatte Lindner dagegen mehr Entlastungen gefordert. Seiner Partei und Basis hat er es als Erfolg verkauft, dass die FDP Steuererhöhungen verhinderte. Die Umfragewerte der Liberalen sind in den vergangenen Wochen trotzdem leicht gesunken.

Die Opposition setzt den Finanzminister nun unter Druck. Wo denn der alte Herr Lindner geblieben sei, fragte die AfD in dieser Woche im Bundestag. Auch die Unionsparteien werfen Lindner vor, sich schnell von Steuersenkungsversprechen verabschiedet zu haben. "Die FDP hat in der Opposition sehr, sehr viel versprochen und uns immer wieder vorgeführt. Das hat zum Teil durchaus wehgetan", sagt Antje Tillmann, finanzpolitische Sprecherin der CDU/CSU-Fraktion, im Gespräch mit unserer Redaktion. "Jetzt ist Herr Lindner in der Realität angekommen. Er weiß jetzt, was es heißt, mit der SPD zu regieren."

Die Unionsparteien fordern von der Ampel Maßnahmen gegen die kalte Progression: Davon spricht man, wenn eine Person zum Beispiel eine Gehaltserhöhung bekommt, dadurch aber in einen höheren Steuertarif rutscht und so weniger Geld auf dem Konto hat. "Die kalte Progression ist eine Steuererhöhung. Finanzpolitisch hat die Ampel einen Fehlstart hingelegt", findet Tillmann.

Lindner ist als einziger Minister zugleich auch Parteichef – und sichtlich bemüht, sein liberales Profil im neuen Amt zu bewahren. Als Berater hat er den früheren Wirtschaftsweisen Lars Feld ins Finanzministerium geholt. Der tritt für einen schlanken Staat ein, der sich aus der Wirtschaft so gut es geht heraushält. Gerade hat der FDP-Vorsitzende eine höhere Pendlerpauschale ins Spiel gebracht. Anfang des Jahres versprach er für die kommenden Jahre Entlastungen der Bürgerinnen und Bürger in einem Umfang von 30 Milliarden Euro.

Der Koalitionär

"Auf der persönlichen Ebene verstehen die Finanzpolitikerinnen und Finanzpolitiker der Ampel sich sehr gut", sagt Lisa Paus, stellvertretende Fraktionsvorsitzende der Grünen. "Das ist wichtig und bietet eine belastbare Grundlage, um auch inhaltliche Konflikte innerhalb der Koalition auszutragen."

Hinter Lindners Entlastungspläne macht Paus im Gespräch mit unserer Redaktion allerdings ein Fragezeichen: "Man kann als Bundesfinanzminister nicht kritisieren, dass die Ministerien zu viele Ausgabenwünsche anmelden – und im gleichen Atemzug einen Vorschlag über teure, breite Entlastungen bei der Einkommensteuer ankündigen."

Lindner offen für höhere Pendlerpauschale - prompte Kritik an Vorstoß

Angesichts der hohen Energiepreise ist Bundesfinanzminister Christian Lindner offen für eine Anhebung der Pendlerpauschale. Wenn es eine Einigung gebe, "daran etwas zu tun, würde es am Finanzminister nicht scheitern", sagte der FDP-Chef. Kritik zu dem Vorstoß kam von den Grünen und der Linkspartei.

Als maßgeblicher Architekt der Koalition muss Lindner auf seine Partner Rücksicht nehmen. Er sagte in dieser Woche scherzhaft im Bundestag: "Es ist eine beklagenswerte Realität, aber auch ich muss sie anerkennen: Die FDP hat bei der Bundestagswahl eine absolute Mehrheit verfehlt." Bei manchen Themen hält er sich derzeit erstaunlich bedeckt: Wie er persönlich zu einer allgemeinen Corona-Impfpflicht steht, hat er zum Beispiel noch nicht verraten.

Auch innerhalb der Koalition bestreitet kaum jemand, dass die Finanzpolitik die größte mögliche Konfliktquelle darstellt. Um neue Investitionen ohne neue Schulden und Steuererhöhungen zu stemmen, muss die Regierung bereits zu einem Trick greifen. Sie schichtet ungenutzte Kreditermächtigungen in Höhe von 60 Milliarden Euro in einen Klimafonds um, die für die Coronakrise gedacht waren. Die Unionsfraktion wirft Lindner "Taschenspielertricks" vor – und will vor dem Bundesverfassungsgericht gegen diesen Schritt klagen.

Der Staatsmann

Mit widersprüchlichen Erwartungen reist Christian Lindner auch nach Brüssel. Auf Ebene der Europäischen Union schwelt seit Jahren der Streit um die Frage, inwieweit die reicheren Staaten für die ärmeren EU-Mitglieder aufkommen. Im Koalitionsvertrag ist die FDP ihren Partnern entgegengekommen. Die Ampel-Parteien erklären sich darin bereit, "die europäische Rückversicherung für nationale Einlagensicherungssysteme" zu schaffen.

Das könnte darauf hinauslaufen, dass Banken europaweit untereinander für ihre Risiken haften müssen. SPD und Grüne halten das im Sinne europäischer Solidarität für richtig, genau wie die große Mehrheit der EU-Staaten. Der alte Lindner hätte sich dagegen ausgesprochen – und auch die neue CDU/CSU-Opposition wehrt sich gegen diesen Schritt.

Man müsse Lindner zugestehen, dass er sich in seine Aufgabe einarbeiten muss, sagt die Christdemokratin Antje Tillmann. "In Europa stehen demnächst Entscheidungen an, bei denen wir ihn dringend brauchen. Wenn er sich deswegen mehr Zeit am Schreibtisch nimmt, statt in den Medien aufzutreten, finde ich das durchaus sympathisch."

Eine Chance für die zweite Reihe

Christian Lindner selbst scheinen seine vielen Rollen übrigens nicht viel auszumachen: Öffentlich wirkt er mit seiner Herkulesaufgabe im Reinen. Auch in seiner eigenen Partei kann man ganz gut leben mit dem "neuen" Lindner: Lange galt die FDP als seine "One-Man-Show" – obwohl auch Lindner selbst immer wieder versuchte, weitere Köpfe zu sich in die erste Reihe zu holen.

Jetzt hat die FDP mehr prominente Posten besetzt. Eine Chance auch für die bisherige zweite Reihe, sich stärker zu profilieren.

Verwendete Quellen:

  • Gespräche mit Markus Herbrand, Lisa Paus und Antje Tillmann
  • FDP.de: Koalitionsvertrag "Mehr Fortschritt wagen – Bündnis für Freiheit, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit
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