• Zum ersten Mal hat der Bundestag über eine Impfpflicht gegen das Coronavirus diskutiert.
  • Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach spricht sich mit einer emotionalen Rede für die Einführung aus.
  • Während manche Abgeordnete vor allem Argumente austauschen wollten, nutzte die Opposition die Debatte zum Angriff auf die Regierung.
Eine Analyse
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Draußen gleicht der Bundestag am Mittwoch einer Festung. Das Parlament ist abgesperrt, 1.600 Polizisten und Polizistinnen sind im Einsatz, Wasserwerfer stehen bereit. Demonstrationen gegen und für die Corona-Maßnahmen sind angemeldet.

Drinnen ist der Ton meistens sachlich und konzentriert, stellenweise aber auch scharf und hitzig. Das liegt nicht nur an lauten Zwischenrufen der AfD – sondern auch daran, dass die CDU/CSU-Fraktion die Debatte über eine Impfpflicht gegen das Coronavirus vor allem für einen Angriff auf die Ampel-Regierung nutzt.

Olaf Scholz spricht nicht

Es geht an diesem Tag um eine erste Orientierung, um das Austauschen von Argumenten. In einer "freien Abstimmung" sollen die Abgeordneten in den nächsten Monaten über das Thema entscheiden.

Das ist eine irreführende Bezeichnung, denn frei sind die Volksvertreterinnen und -vertreter sowieso. Die Abgeordneten sind "an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen", stellt das Grundgesetz in Artikel 38 klar. In der Realität wird von ihnen aber erwartet, dass sie sich an die Linie ihrer Fraktion halten. In dieser Frage soll das nicht so sein.

Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) vereidigt dieses Vorgehen: Es sei der Sache und des Parlaments angemessen. "Es gilt die Logik des Arguments und des frei gesprochenen Wortes." Drei verschiedene Anträge werden von Abgeordneten von SPD, Grünen und FDP derzeit vorbereitet. Bundeskanzler Olaf Scholz ist zwar phasenweise im Plenarsaal, das Wort ergreift er aber nicht.

CSU-Abgeordnete: Regierung zeichnet Bild der Planlosigkeit

Andrea Lindholz, stellvertretende Vorsitzende der Unionsfraktion, feuert Vorwürfe in Richtung Regierungsbank ab. "Die Bundesregierung zögert und handelt nicht", schimpft sie. Das Kabinett habe einen eigenen Gesetzentwurf für die Einführung der Impfpflicht vorlegen müssen, findet die CSU-Politikerin.

Stattdessen gebe es drei Ansätze aus der Ampel-Koalition. "Das führt zu Verunsicherung bei den Menschen im Land und es zeichnet auch ein Bild von Planlosigkeit – und genau das ist bei so einem wichtigen Thema desaströs." Führungs- und Verantwortungslosigkeit und Arbeitsverweigerung - all das wirft die Christsoziale der Regierung vor.

Alice Weidel spricht von "autoritärem Amoklauf"

Alice Weidel (AfD) nimmt diese Rede offenbar zum Anlass, rhetorisch noch etwas aufzurüsten – wenn auch in eine andere Richtung. Eine Impfpflicht sei ein "Anschlag auf die Freiheit und Menschenwürde und das Grundrecht auf die körperliche Unversehrtheit", sagt Weidel. Sie spricht gar von einem "autoritären Amoklauf" und einem "elementaren Zivilisationsbruch" - ein Wort, das meist im Zusammenhang mit dem Holocaust verwendet wird.

Besonders laut brüllen einzelne AfD-Abgeordnete, als die Grünen-Politikerin Ricarda Lang am Mikrofon steht. Als "Sternstunden" des Parlaments werden die freien Debatten zu ethischen Fragen häufig bezeichnet. Zu dieser Debatte passt die Bezeichnung wegen des aggressiven Tons kaum – auch wenn Ricarda Lang in Richtung der AfD sagt: "Sie werden nicht verhindern, dass die Demokratinnen und Demokraten eine respektvolle und komplexe Debatte führen."

Die Impfpflicht als Weg aus der Pandemie

Denn es werden auch echte Argumente ausgetauscht. Manche Abgeordnete haben sich bereits festgelegt und werben für eine allgemeine Impfpflicht für alle Erwachsenen. Impfen sei der Weg aus der Pandemie, sagt Dagmar Schmidt (SPD): "Wir wollen alle ab 18 einbeziehen, damit alle mit allen solidarisch sind."

Ihre Fraktionskollegin Heike Baehrens betont, dass die Impfpflicht wichtig sei, um nicht in einen dritten Pandemie-Herbst zu steuern. Sie solle zeitlich begrenzt werden und mit drei Impfdosen als erfüllt gelten. "Lassen Sie uns dem Virus geschlossen die Stirn bieten."

Lauterbach bedankt sich für "hervorragende Debatte"

Zum Ende hin, als einige Abgeordnete den Plenarsaal schon verlassen haben, ergreift auch Karl Lauterbach das Wort. Als Bundesgesundheitsminister will er in dieser Frage neutral bleiben – als Abgeordneter hat er aber durchaus eine Meinung.

Er bedankt sich für die "hervorragende Debatte". Lauterbach hat bei den Reden zuvor eifrig mitgeschrieben. Er warnt davor, dass durch die Omikron-Variante bis zu 5000 Menschen auf den Intensivstationen landen könnten. Zudem könnten neue Varianten für neue Wellen führen. "Wenn wir das im Herbst sicher vermeiden, ist der einzige Weg eine Impfpflicht, mit der wir uns alle gegenseitig schützen." Lauterbach wird für seine Verhältnisse ungewöhnlich emotional. Man werde ohne die Impfung nicht "zurückkommen zu dem Leben, das wir gelebt und geschätzt haben".

Kubicki: Staatliche Eingriffe müssen enden

Wolfgang Kubicki hat dagegen als erster einen Antrag gegen diese Impfpflicht auf den Weg gebracht. Er sei selbst geimpft und geboostert, betont der FDP-Politiker. Er ist überzeugt: Die staatlichen Eingriffe müssten enden, wenn alle ein Impfangebot erhalten haben und dann wieder das eigene Risiko tragen. "Wir müssen respektieren, dass es durchaus Gründe gibt, eine Impfung für sich persönlich abzulehnen."

Für den Mittelweg werben diejenigen, die eine Impfpflicht auf die über 50-Jährigen beschränken wollen. Tino Sorge (CDU) verweist darauf, dass die vorliegenden Impfstoffe keinen hundertprozentigen Schutz bieten können. "Solange kein Instrument mit absolutem Schutz zur Verfügung steht, wäre eine absolute Impfpflicht der falsche Weg." Sein Beispiel beweist, dass sich auch die Unionsfraktion noch nicht einig ist, für wen die Impfpflicht gelten soll.

Viele Abgeordnete noch unentschieden

"Orientierungsdebatte" hat der Bundestag diesen Tagesordnungspunkt genannt. Orientierung ist in diesem Fall auch nötig. Denn viele Abgeordnete sind noch unschlüssig, für welchen Weg sie sich entscheiden sollen. Das gilt zum Beispiel für Bundesjustizminister Buschmann: "Worum es gehen muss, ist der Schutz des öffentlichen Gesundheitssystems, die Verteidigung der Intensivstationen und auch der Normalstationen vor Überlastung."

Um das sicherzustellen, sei aber das "mildeste" Mittel nötig, so Buschmann. Er kann sich auch vorstellen, die Impfpflicht auf bestimmte Altersgruppen zu beschränken. "Ich traue mir heute da noch keine abschließende Meinung zu."

Noch mindestens drei Lesungen und eine Sitzung des Bundesrats sind nötig, bevor eine Impfpflicht in Kraft treten kann - wie auch immer sie dann gestaltet wäre. Dieser Nachmittag ist daher nur der Auftakt. Die Diskussion hat gerade erst begonnen.

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