Das DFB-Team verliert nach einem blutleeren Auftritt auch in Österreich. Leroy Sané vom FC Bayern lässt sich zu einer Tätlichkeit hinreißen. Doch die Schwächen, die Bundestrainer Julian Nagelsmann beheben muss, gehen viel tiefer.

Eine Analyse
Dieser Text enthält eine Einordnung aktueller Ereignisse, in die neben Daten und Fakten auch die Einschätzungen von Patrick Mayer sowie ggf. von Expertinnen oder Experten einfließen. Informieren Sie sich über die verschiedenen journalistischen Textarten.

Deutschland hat das Siegen verlernt. Nach einer sehr schwachen Leistung musste sich die Nationalmannschaft am Dienstagabend starken Österreichern 0:2 (0:1) geschlagen geben. Dortmunds Marcel Sabitzer (29. Minute) und Christoph Baumgartner (73.) von RB Leipzig besiegelten die sechste Niederlage für das Team des Deutschen Fußball-Bundes (DFB) im elften Länderspiel 2023.

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Knapp ein halbes Jahr vor der EM 2024 im eigenen Land (14. Juni bis 14. Juli) präsentierte sich die deutsche Elf in einer geradezu verheerenden Verfassung. In Wien war die Rote Karte gegen Bayerns Leroy Sané (49. Minute) nach einer Tätlichkeit der traurige Höhepunkt einer erschreckend ideenlosen Darbietung.

Die Baustellen für Julian Nagelsmann gehen aber weit über Disziplinlosigkeiten hinaus. Der Bundestrainer hat vier Großbaustellen zu bearbeiten.

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Mangelnde Körpersprache: DFB-Team wirkt stark verunsichert

Die Österreicher feierten ihren Erfolg lautstark in der Kabine, sodass es bis in den benachbarten Pressebereich des Ernst-Happel-Stadions zu hören war. Für sie war es nach dem 2:1 im Juni 2018 in Klagenfurt der zweite Sieg in Folge gegen eine deutsche Mannschaft – das gab es letztmals 1931. Entsprechend gingen die Gefühlswelten in der Mixed Zone auseinander. "Man muss seinen Mann stehen und den Kopf hochhalten", sagte BVB-Stürmer Niclas Füllkrug und fand es "schwierig, das alles zu erklären".

DFB-Sportdirektor Rudi Völler forderte "fünf bis zehn Prozent mehr Leidenschaft". Ob das reicht? Auf dem Platz mangelte es den deutschen Spielern nach dem 2:3 (1:2) im Länderspiel zuvor gegen die Türkei sichtlich an selbstbewusster Körpersprache.

Bezeichnend: Nach 90 Minuten blieb Leverkusens Dribbler Florian Wirtz nach einem verlorenen Zweikampf am gegnerischen Strafraum liegen, obwohl die deutsche Mannschaft in Unterzahl war. Und Sané packte sich vor lauter Frust rustikal den Mainzer Phillipp Mwene.

Immerhin stellte sich der Münchner hinterher. "Das Spiel geht auf meine Kappe", sagte der 27-jährige Angreifer und begründete seinen Ausraster damit, dass er so motiviert gewesen sei. Mwene meinte zu der Szene: "Sie waren einfach frustriert, weil bei ihnen nicht viel funktioniert hat."

Ganz anders die Stimmung bei den Österreichern. Sabitzer lobte einen "eingeschworenen Haufen", Baumgartner erzählte von einem "unfassbar geilen Spirit". Dass die Niederlage für Deutschland nicht herber ausfiel, war der Verdienst von Torwart Kevin Trapp, der Großchancen (17./64./90.) vereitelte.

Deutschland harmlos: DFB-Team braucht mehr Torgefahr

In Richtung österreichisches Tor ging bis auf einen Schlenzer von Sané (32.) gar nichts. Füllkrug fand überhaupt nicht ins Spiel, der nach der Pause eingewechselte Thomas Müller ebenfalls nicht. Zwar hatte das DFB-Team neun Torschüsse, diese waren aber allesamt harmlos. "Wenn wir im Spiel fast alles aus dem Stand spielen, Baumgartner mit jedem Schritt zwei Spieler verteidigen kann – wir brauchen viel mehr Dynamik im Spiel", sagte Nagelsmann im ZDF.

Österreich-Spiel zeigt: DFB-Team braucht Mittel gegen Pressing

Defensiv war die deutsche Mannschaft einmal mehr mit dem hohen Pressing eines Gegners überfordert. "Wir hatten viele hohe Ballgewinne. In der zweiten Halbzeit hätten wir den einen oder anderen Konter besser ausspielen können. Im Großen und Ganzen war es das aggressive Pressing, das ihnen nicht gepasst hat", sagte Mwene auf Nachfrage unserer Redaktion. "Da haben wir unsere Chance gesehen, und die haben wir genutzt."

ÖFB-Star David Alaba (Real Madrid) erklärte auf Nachfrage: "Wir wollten Druck ausüben, hoch anlaufen und die Zweikämpfe annehmen. Wir wussten, dass wir sehr viel Raum haben würden, wenn wir die zweiten Bälle für uns entscheiden. Deutschland ist eine Mannschaft, die sehr hoch steht. Dementsprechend gibt es dahinter Raum." BVB-Verteidiger Mats Hummels bemängelte: "Wir haben es nicht geschafft, sie vom Tor wegzuhalten." Und Füllkrug vermisste "mehr Dynamik, um es ihnen schwerer zu machen, dass sie uns pressen". 2023 kassierte das DFB-Team so 22 Gegentore in elf Partien – es ist der schlechteste Schnitt seit 1956.

Für EM 2024: Nagelsmann muss Formation für Deutschland finden

Nach der Türkei-Pleite hatte Rekordnationalspieler Lothar Matthäus bei RTL eine "Ausprobiererei" kritisiert. Das taktische Experimentieren ging auch in Wien nach hinten los. Konkret: Erneut bot Nagelsmann Kai Havertz (FC Arsenal) als eine Art Linksverteidiger auf, der bei Ballbesitz dann in einem 3-5-2 nach vorne schiebt, um vor dem gegnerischen Tor Überzahl zu schaffen. Als "Joker", wie es Nagelsmann nannte.

Der vermeintliche Kniff funktionierte aber wieder nicht. Links offensiv standen sich Füllkrug, Havertz und Julian Brandt regelrecht im Weg. Die linke Flanke stand dagegen sperrangelweit offen für Konter. Nagelsmann rechtfertigte sich auf der Pressekonferenz.

So würde David Raum die Rolle links hinten bei RB Leipzig "extrem offensiv" interpretieren, genauso Robin Gosens bei Union Berlin. Beide kamen nicht zum Einsatz. "Das sind keine Linksverteidiger. Ihre große Stärke ist die Offensive und nicht unbedingt das Verteidigen", referierte Nagelsmann, der in bisher vier Länderspielen keine eindeutige Formation gefunden hat.

Verwunderlich: "Pascal Groß ist ein Parade-Mensch als Spieler. Wie er auf dem Feld plant. Ich habe selten einen Profi gesehen, der sich so unwichtig nimmt", schwärmte der Bundestrainer vom Premier-League-Profi von Brighton & Hove Albion.

Groß hatte im Oktober auf der Amerika-Reise gegen die USA (3:1) und gegen Mexiko (2:2) als Malocher auf der Sechs überzeugt. Aber: Gegen die Türkei und in Österreich durfte der 32-jährige Badener nicht eine Minute ran. Warum nicht, ließ Nagelsmann unbeantwortet. Bis zu den verbleibenden EM-Tests im März muss der 36-jährige Oberbayer jetzt dringend Lösungen finden.

Verwendete Quellen

  • Stimmen aus der Mixed Zone und von der Pressekonferenz in Wien
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