Die Ukraine erlebt durch den Beschuss ziviler Infrastruktur derzeit einen wahren Hagel an russischen Kriegsverbrechen. Welche Gründe und welche Folgen das hat, darüber sprach Maybrit Illner am Donnerstag im ZDF mit ihren Gästen. Ein Abend, der viel Bekanntes, aber auch die eine oder andere überraschende Aussage bereithielt.

Christian Vock
Eine Kritik
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Russland attackiert gerade verstärkt ukrainische Infrastruktur und die Zivilbevölkerung. Gleichzeitig gibt es im westlichen Europa Attacken auf Pipelines oder den Bahnverkehr – wer dahintersteckt ist allerdings noch nicht abschließend geklärt. In dieser Gemengelage fragt Maybrit Illner am Donnerstagabend ihre Gäste: "Heißer Krieg in der Ukraine – hybrider Krieg in Europa?"

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Mit diesen Gästen diskutierte Maybrit Illner:

  • Omid Nouripour. Der Parteivorsitzende von B’90/Die Grünen ist per Video zugeschaltet. Zum jüngst gelieferten Raketenschutzschirm stellt Nouripour fest: "Die Systeme, die wir liefern, retten Menschenleben." Man müsse so schnell wie möglich mehr liefern, aber die Systeme müssten zum Teil erst gebaut werden.
  • Gregor Gysi (Die Linke). Gysi ist außenpolitischer Sprecher der Linke-Fraktion im Bundestag. Er ist nicht gegen generelle Waffenlieferungen an die Ukraine, sondern nur gegen Waffen aus Deutschland, denn er sagt: "Wir haben eine andere Geschichte als andere Länder. Von Deutschland ging der schlimmste Krieg der Menschheitsgeschichte aus."
  • Katrin Eigendorf. Die ZDF-Reporterin ist aus Kiew zugeschaltet. Sie berichtet Erschreckendes über die Schäden der Raketenangriffe an der Infrastruktur, etwa in Charkiw: "Ich frage mich wirklich, wie die Leute da weiter leben wollen."
  • Peter R. Neumann. Neumann ist Terrorismusexperte und meint zu Waffenlieferungen aus Deutschland: "Durch dieses Zögern am Anfang ist ganz viel Vertrauen verloren gegangen." Bei der Ukraine habe man Vertrauen verloren, bei Putin aber keines gewonnen.
  • Ben Hodges. Der Generalleutnant a. D. war bis Ende 2017 Oberkommandierender der US-Landstreitkräfte in Europa. Er meint, "dass die Menschen, die Putin umgeben, jetzt langsam, aber sicher verstehen, was das für eine Katastrophe eigentlich ist, in der sie sich da befinden." Deshalb umgebe sich Putin nun vor allem mit loyalen Gefolgsleuten.
  • Margarete Klein. Klein ist Expertin für russische Militärpolitik bei der Stiftung Wissenschaft und Politik. Über den Druck, dem Putin aufgrund seiner Misserfolge ausgesetzt ist, sagt Klein: "Er macht im Moment nichts großartig Anderes. Er eskaliert auf verschiedenen Ebenen."

Die Themen des Abends:

Katrin Eigendorf ist aus Kiew zugeschaltet und gibt erschütternde Einblicke aus der Ukraine, in der überall Raketen einschlagen. Man müsse sich vorstellen, man geht durch Berlin und muss jederzeit damit rechnen, dass auf dem Ku’damm oder im Tiergarten Raketen einschlagen. Trotz der Angst und Verzweiflung sehe Eigendorf aber auch "eine große Entschlossenheit" in der Ukraine, nicht zurückzuweichen.

Sorgen bereiten der ZDF-Korrespondentin die Schäden, die die Raketenangriffe an der Infrastruktur angerichtet haben. Bereits in Kiew gebe es in manchen Stadtteilen nur noch stundenweise Strom. In Charkiw allerdings sei fast die gesamte Infrastruktur zerstört. "Es ist wirklich ein dramatischer Versorgungsengpass für die Menschen entstanden und ich kann mir nicht vorstellen, wie es die Ukraine schaffen soll, in diesem Winter so vielen Leuten wieder eine Struktur zu bieten."

Margarete Klein erklärt die Gründe für die Raketenangriffe Putins: "Er steht unter Druck, denn dieses Putinsche Regime legitimiert sich sehr stark mit der Demonstration außenpolitischer Größe und Erfolge." Da bereits der wirtschaftliche Pfeiler weggefallen sei, müsse Putin diesen Pfeiler durch Eskalation aufrechterhalten, etwa durch die Annexion, die Raketenangriffe oder die nukleare Drohung. Gleichzeitig sei es auch ein Zugeständnis an die Hardliner.

Ben Hodges erklärt den Beschuss aus militärischer Perspektive: "Ihm gehen wirklich die Präzisionswaffen aus." Durch die Sanktionen seien diese Waffen nicht zu ersetzen, deshalb setze er nun Luftabwehrwaffen gegen Wohnhäuser ein. "Das ist ein Fehlschlag in jeder Facette". Putin versuche nun, den Krieg zu verlängern, um die Unterstützung des Westens irgendwann zu brechen.

"Ich glaube, beide Seiten können in dem Sinne nicht siegen", behauptet Gysi. Deshalb sei es so wichtig zu einem Waffenstillstand zu kommen. Das sieht Peter Neumann ein wenig anders: "Was die Verhandlungen angeht – das wird noch eine ganze Weile dauern. Ich bin da nicht so optimistisch wie Herr Gysi. Für Verhandlungen brauchen sie zwei Parteien, die miteinander sprechen wollen. […] Wenn Selenskyj heute sagen würde ‚Ich mache einen Kompromiss’, wäre er morgen nicht mehr Präsident." Bei Russland habe man bereits so viel versucht: "Es gibt kein Interesse."

Kurz vor Ende kommen noch die Sabotage-Akte zur Sprache. "Zahllose Ziele, düstere Aussichten", behauptet der Off-Sprecher. Man sei zwar nicht im Krieg, aber die russische Regierung tue viel, "dass wir verletzt sind", erklärt Omid Nouripour, sieht aber auch die gezielten Desinformationskampagnen, um die deutsche Bevölkerung zu verunsichern.

Der Schlagabtausch des Abends:

"Ich muss zugeben, dass ich mich mehrfach aufrege, über das, was Gregory Gysi gesagt hat", beginnt Omid Nouripour bereits nach wenigen Minuten. Dass nur andere Länder und nicht Deutschland Waffen liefern sollen, wie es Gysi gerne hätte, sei "die klassische Nummer", um sich nicht die Hände schmutzig zu machen. Außerdem entziehe sich Gysi der Verantwortung und spiele Putins Spiel mit, dass man die Geduld verliere. "Das dürfen wir nicht zulassen."

Vorausgegangen waren Äußerungen Gysis, dass er nicht generell gegen Waffenlieferungen sei, sondern nur gegen Waffenlieferungen aus Deutschland. Man habe den Zweiten Weltkrieg begonnen, "deshalb dürfen wir nicht mehr an Kriegen verdienen." Es war nicht das letzte Mal, dass Nouripour bei Gysis Ausführungen erhöhten Puls bekam, wie der Grünen-Politiker kurz vor Schluss verrät: "Ich muss beichten, dass es Herr Gysi schafft, mich mit jeder Antwort aufzuregen."

Die Prophezeiung des Abends:

Ben Hodges schätzt die Gemütslage von Ukraine-Präsident Selenskyj ein und wagt eine überraschende Prognose: "Es ist der letzte Winter, wo Russland es noch schaffen kann, die europäische Wirtschaft zu beeinträchtigen. Das ist der letzte Winter, wo Russland auch die Energielieferungen nach Europa unterbrechen kann. Die Russen haben ihre Gas-Karte viel zu früh gespielt."

Deutschland habe sich physisch und psychologisch "signifikant angepasst" und Selenskyj wisse das. Wenn man jetzt zusammenhalte, werde Russland im nächsten Sommer auf die Linien des 23. Februars zurückgedrängt sein. "Und ich glaube sogar, dass bis zum nächsten Sommer die Krim-Halbinsel wieder befreit sein kann", mutmaßt Hodges.

Die "Atomwaffen-Diskussion" des Abends:

Natürlich spielen an diesem Abend auch die Drohungen Russlands mit dem Einsatz von nuklearen Waffen eine Rolle. Hierzu sagt Peter Neumann: "Wie wir diese Woche gesehen haben, kann Russland auch eskalieren. Und die Eskalationsschritte, die wir diese Woche gesehen haben, das sind nur die ersten Eskalationsschritte. Am Ende dieser Eskalationsspirale steht möglicherweise auch der Einsatz von taktischen Nuklearwaffen." Man dürfe sich zwar nicht von der Angst davor treiben lassen, müsse das aber mit einkalkulieren. "Es ist ein komplexes strategisches Terrain."

Bei der Komplexität geht Margarete Klein mit, den Einsatz von Atomwaffen sieht sie allerdings anders: "Es würde politisch keinen Sinn machen für die russische Regierung, Nuklearwaffen einzusetzen. Das würde all diejenigen, die Russland noch stillschweigend unterstützen oder zumindest neutral sind, bei diesem Tabubruch letztendlich von Russland wegbringen."

Ben Hodges erläutert in puncto Atomwaffen den Unterschied zur Kubakrise. Damals sei es um strategische, nicht um taktische Nuklearwaffen gegangen. "Das ist eine ganz andere Art von Gefahr." Taktische Atomwaffen könne man ganz anders einsetzen, was zu einer anderen Gefährdungslage führe. "Ich glaube, dass es dennoch unwahrscheinlich ist und bleibt. Denn eine taktische Nuklearwaffe – da muss man die gesamte Befehlskette vom Generalstab miteinbeziehen und an vielen Stellen werden da Entscheidungen getroffen. Ich bezweifle, dass sie das tun würden."

Das Fazit:

Seit dem Kriegsbeginn ist der Angriff Russlands gegen die Ukraine Thema in politischen Talkshows – und das ist auch gut so. Die Ausgabe von "maybrit illner" zeigte am Donnerstagabend, warum. Denn obwohl sich in diesem Krieg generelle Positionen, Fakten und Ansichten weder schnell noch grundsätzlich ändern, hat dieser Krieg doch eine Dynamik, bei der es auf kleine Veränderungen zu achten gilt. Und so dynamisch wie diese Veränderungen sind mitunter auch die Informationen, die man in Polittalksshows wie an diesem Abend erfährt.

Dazu gehört etwa die Einschätzung von Ben Hodges, was die Rückeroberungen der Ukraine bis zum Sommer 2023 betrifft, aber auch die Ansichten Peter Neumanns über Geheimverhandlungen zwischen Russland und den USA. Die gab es auch schon in der Kuba-Krise, bisher standen sie aber nicht so sehr im Fokus der Diskussion. Hier etwa meint Neumann: "Ja, diese Kanäle existieren natürlich." Über diese Kanäle habe man sich auch über die Nukleardrohungen ausgetauscht, was laut Neumann richtig sei: "Wenn man die einfach abstreitet und sagt: Das kann gar nicht sein, weil wir wollen das nicht, dann tut man nicht das Richtige, um den Gegner abzuschrecken."

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