Wie soll Europa mit der Flüchtlingsfrage umgehen? Die Runde bei "Maybrit Illner" ist sich im Detail uneins. Eine Tendenz wird aber klar: Denn die Vorschläge zur Abschottung liegen auf dem Tisch, Rezepte zur Hilfe innerhalb Europas nicht.

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Den Flüchtlingen jetzt auch noch das Auseinanderbrechen der EU anzulasten, das scheint doch übertrieben.

Wahrscheinlich hat Maybrit Illner ihr Thema für den Donnerstagabend einfach nur missverständlich formuliert: "Helfen oder abschotten – scheitert Europa an den Flüchtlingen?" hieß es, und bedeuten sollte es wohl: Scheitert Europa an der Frage, wie es mit den Flüchtlingen umgehen soll?

Und überhaupt, das meint jedenfalls EU-Parlamentsvize Alexander Graf Lambsdorff, hat Angela Merkel allein "Europa an die Wand gefahren", und zwar im September 2015 mit ihrer Entscheidung, die Grenze für Flüchtlinge aus Ungarn zu öffnen.

Das Mittelmeer dicht machen

Der passende Auftakt für eine Sendung, in der es sich so einige Gäste sehr einfach machten.

Allen voran Elisabeth Köstinger, Generalsekretärin der ÖVP und als Prophetin ihres Parteichefs Sebastian Kurz in die Runde gekommen.

Österreichs 30-jähriger Außenminister, der nach den Wahlen im Oktober im Kanzleramt sitzen will, macht seit Wochen mit der Forderung auf sich aufmerksam, die Mittelmeerroute zu schließen.

Sein Gegner, Kanzler Christian Kern von den Sozialdemokraten, hat für Kurz’ Plan eigens ein Wort erfunden: ein "populistischer Vollholler" sei das.

Weil es bei Maybrit Illner aber nicht um österreichischen Wahlkampf ging, war Kern nicht eingeladen, dafür aber Graf Lambsdorff, der mit seiner leicht cholerischen Streberhaftigkeit auch gut in eine Gemeinderatssitzung zum Thema Abwassergebühren passen würde.

Er machte Köstinger darauf aufmerksam, dass die Route nicht geschlossen werden kann, schon gar nicht mit den Mitteln, die der europäischen Grenzschutzagentur Frontex zur Verfügung stehen.

Und selbst wenn – dann würden die Menschen nicht mehr in Libyen in Boote steigen, sondern in Ägypten oder Tunesien oder Marokko.

Seenotrettung - ein falsches Signal?

Rund 100 Millionen Menschen könnten in den nächsten Jahren den Weg nach Europa suchen, mit dieser Zahl warf sich Bundesentwicklungsminister Gerd Müller (CSU) schwunghaft in die Diskussion.

Momentan seien es rund 500.000 bis 600.000, die in Libyen auf ihre Überfahrt warteten. Müller bezeichnete den Bürgerkriegsstaat als ein "Problemland" - eine krasse Beschönigung.

Die EU bildet dort schon jetzt Grenzpatrouillen gegen die Schlepperbanden aus. Wer den Kampf wirklich führt, zeigt zum Beispiel ein Artikel im Magazin der Süddeutschen Zeitung von Anfang Juni. Der Autor stellt einen Milizenführer vor, mit zweifelhaftem Ruf und offensichtlichen Interessen, die sich von denen der Schlepper nicht unterscheiden: Es geht um Geld.

Der Staat ist keine Alternative zu solchen Figuren, weil es schlicht keinen gibt. Wer auf offener See oder in Libyen in die Fänge von Europas Handlangern gerät, endet wahrscheinlich in einem der Lager, die Illner in einem Einspieler kurz zeigt.

Was genau dort passiert, schildert eine von ihren Gästen, Melissa Fleming, die Sprecherin des UN-Flüchtlingshilfswerks: "Wir haben Zugang zur Hälfte der Lager. In denen, die wir kennen, ist es schrecklich, in den anderen noch schlimmer."

Frauen werden vergewaltigt, Männer gefoltert, EU-Berichte bestätigen das.

Warum die Menschen trotzdem kommen? Kurz‘ Vertreterin Elisabeth Köstinger sprach immer wieder von falschen "Signalen", die Flüchtlinge dazu verführten, den gefährlichen Weg über das Mittelmeer anzutreten.

Was sie damit auch meint: Private Initiativen und Organisationen, die Menschen aus Seenot und damit vor dem Tod retten. Den Begriff, den ihr Parteichef dafür benutzt, vermied sie: "NGO-Wahnsinn".

Tatsächlich aber - das hat die Universität London kürzlich in ihrer Studie "Blaming the Rescuers" festgestellt, ist es nicht die Hoffnung, im Zweifel vor dem Ertrinken gerettet zu werden, die Menschen zur Flucht bewegt. Ausschlaggebend sind stattdessen die sogenannten Push-Faktoren, die Missstände, die Flüchtlinge aus ihrer Heimat wegtreiben.

Ein mal wieder hochpulsiger Graf Lambsdorff ging auf diesen Faktoren konkret ein: 2015 kürzten einige Länder ihre Gelder für das UN-Welternährungsprogramm dramatisch. Österreich zahlte damals weniger ein als Malawi, der Kongo und selbst Bangladesh.

Bundesentwicklungsminister Gerd Müller präsentierte in der Runde eine beliebte Rechnung: Mit den 30 Milliarden Euro für eine Million Flüchtlinge in Deutschland könnte man in deren Herkunftsländern viel mehr bewegen, sagte der CSU-Politiker.

Wie genau er mit Geld in einem Bürgerkriegsland wie Syrien Perspektiven schaffen will, sagte er nicht. Auch nicht, warum die nächsten Milliarden in Afghanistan besser wirken sollen als all die anderen, die schon geflossen sind.

Über Integration wird kaum gesprochen

Eine fruchtbare Diskussion über Hilfe und Integration auf europäischem Boden wollte nicht entstehen, nur der Journalist Jörg Thadeusz bemühte sich trotz einem "Gefühl von Frustration" darum, mit einigem Gespür für Drama:

Er deutete auf ein paar junge Menschen im Publikum und ging Elisabeth Köstinger direkt an: "Kann man sich vor die hinstellen und sagen: Schaut mal, das ist das Europa, das wir Euch gebaut haben. Schön dicht. Richtig dicht?"

Die Antwort übernahm Péter Györkös, ungarischer Botschafter. Seine Sicht: "Wir müssen diesen jungen Leuten in die Augen schauen und sagen, wir können die Migrationsfrage nicht auf Europas Boden lösen."

Der Diplomat besteht offenbar aus Teflon, jedenfalls ließ er jeden noch so gefinkelten Angriff einfach abperlen.

Wo denn die ungarische Solidarität bliebe, fragte Illner Györkos. "Wir haben Sie alle hier in der Runde geschützt", antwortete der Ungar.

Seine Regierung habe bewiesen, dass man die Landesgrenzen schließen könne. Dass sich das Problem damit nur an andere Grenzen verlagert – geschenkt. Außerdem, und das betonte Györkos tatsächlich, vergebe Ungarn sehr viele Visa an Studenten.

Spätestens hier zeigte sich, dass die Frage nach Abschotten oder Helfen sich nicht klären lässt, solange Europa sich nicht einig ist, was es sein will: "Ein Verteidigungsbündnis gegen Flüchtlinge", wie es Maybrit Illner zur Diskussion stellte, oder eine "humanitäre Macht", wie es Alexander Graf Lambsdorff formulierte.

"Es ist eine Identitätsfrage", sagt Jörg Thadeusz: "Sind wir wirklich so kleinmütig, dass wir denen hinterherlaufen, denen das alles zu schwierig ist?"

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