Argentinien in Sorge: Die Krise der Albiceleste nimmt nach dem 0:3 gegen Brasilien konkrete Formen an. Trainer Edgardo Bauza wirkt überfordert, seine Stars funktionieren nicht - und auch der Messias kann den Absturz nicht bremsen. Die Qualifikation für die WM in Russland ist in großer Gefahr.

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Die Erinnerungen waren da, die Sequenzen aus Tränen, Wut und Trauer. Belo Horizonte, das ist für viele Brasilianer mittlerweile gleichbedeutend mit dem Verlust eines Familienangehörigen, zumindest aber für immer und alle Ewigkeiten der Inbegriff der Schmach. Noch schlimmer als das verlorene "Endspiel" gegen Uruguay 1950 im Maracana.

Das 1:7 gegen Deutschland, das Jahrhundertspiel, spukt den Brasilianern in den Köpfen rum und es wurde natürlich auch vor dem Qualifikationsspiel gegen Argentinien wieder ins Gedächtnis der Nation gerufen. Ausgerechnet gegen Argentinien, den Erzrivalen, musste die Selecao zurück an den Ort der Demütigung.

Es war das große Thema im Vorfeld des Klassikers. Aber nun, nach einem geradezu spielerisch einfachen 3:0-Sieg über die Albiceleste, sind die Dämonen etwas besänftigt. Und nun sind es nicht mehr die Brasilianer, denen mulmig zumute ist - sondern Argentinien.

Der Trainer hat große Probleme

Das Ergebnis an sich war schon demoralisierend genug, die Konstellation in der Südamerika-Qualifikation ist es ebenfalls. Dass der Auftritt aber trotz der Rückkehr von Messias Lionel Messi so fürchterlich in die Hose ging, dürfte die Fans in Argentinien noch eine ganze Weile beschäftigen. Die Himmelblauen weisen strukturelle Probleme auf wie selten zuvor.

Platz sechs in der Qualifikationsgruppe ist zementiert, nach elf Spielen hat die Mannschaft erst magere 16 Punkte gesammelt und noch viel schlimmer: Erst elf Tore erzielt. Elf Tore! Diese Ansammlung von Offensivwaffen, Messi, Gonzalo Higuain, Angel di Maria, Kun Aguero, Ezequiel Lavezzi oder Angel Correa. Lediglich die nicht wettbewerbsfähigen Bolivianer haben weniger Tore erzielt als Argentinien (neun). "Eine Schande", rief die Zeitung "La Nacion" aus.

Das Team des überfordert wirkenden Trainers Edgardo Bauza spielte in Belo Horizonte wie eine Truppe zufällig zusammengewürfelter Stars, die gerade etwas Zeit zum Kicken hatten. Die Spieleröffnung war ein Graus, Nicolas Otamendi und Ramiro Funes Mori völlig hilflos mit dem Ballvortrag ins Mittelfeld.

Dort versuchte Javier Mascherano verzweifelt, so etwas wie Verbindungen zu der Offensivreihe herzustellen, aber Messi, Di Maria und Higuain hingen mal wieder total in der Luft. Die Versetzung Mascheranos aus der Innenverteidigung ins zentrale defensive Mittelfeld hemmt die Mannschaft im Offensivspiel. Und defensiv fehlt es schlicht und ergreifend auch an individueller Klasse, um auf hohem Niveau bestehen zu können.

Die Niederlande Südamerikas?

Noch ist ein wenig Zeit, um den GAU abzuwenden, ein Punkt Rückstand auf den vierten Platz und die damit verbundene sichere Teilnahme an der WM sollte bei sieben ausstehenden Spielen aufzuholen sein. Aber dafür muss Bauza endlich ein echtes Team formen, mit klar strukturierten Abläufen in Offensive und Defensive - und sich nicht einfach nur auf die schiere Offensivqualität seiner Einzelspieler verlassen und auf Leo Messi.

Sonst ergeht es den Argentiniern wie den Niederländern vor einiger Zeit. Die konnten sich auch nicht vorstellen, die Europameisterschaft zu verpassen - und als sie dann die Gefahr realisiert hatten, war es bereits zu spät. Messi hat mit seinem Rücktritt nach der Copa America im Sommer auch ein Zeichen gesetzt.

Natürlich war er nach der neuerlichen Finalniederlage getroffen und enttäuscht und hat vielleicht auch aus der Emotion heraus eine Entscheidung getroffen. Aber auch dieses "Weiter so" sollte dadurch auch durchbrochen werden, die Möglichkeit für einen echten Neuanfang geschaffen werden. Auf den warten die Fans aber weiterhin vergeblich und einige fragen sich jetzt bereits, ob Messi den Rücktritt vom Rücktritt nicht längst bereut hat.

Messis Rückkehr floppt

Die Albiceleste steckt in einer veritablen Krise fest und mit Messis Rückkehr wurde die erste Patrone auf Besserung bereits ergebnislos abgefeuert. Seit vier Spielen wartet Argentinien auf einen Sieg. "Ich bin traurig, sauer und besorgt", sagte Trainer Bauza nach dem 0:3. Wenigstens damit traf er auf die volle Zustimmung bei den Fans.

Denen geht es genauso und mittlerweile sehen sich einige in die schwärzeste Stunde des argentinischen Fußballs erinnert. Erst einmal verpasste die stolze Nation eine Weltmeisterschaft. Für die Titelkämpfe 1970 hatte sich Argentinien sogar aus Ausrichter beworben, musste dann aber Mexiko den Vortritt lassen. Und in der Qualifikation war eigentlich auch alles schon geregelt.

Ein Sieg gegen Peru im Stadion der Boca Juniors, und der Weg nach Mexiko wäre geebnet gewesen. "Die Bombonera pulsiert", hieß es vor dem Spiel. Danach war das Stadion tot und Argentiniens Fußball am Boden. Das 2:2 gegen den krassen Außenseiter markierte eine Zäsur, es war Argentiniens ganz persönliches Belo Horizonte. Davor fürchten sich die Leute in dem gebeutelten Land, in dem der Fußball nichts weniger als eine Religion ist und die Menschen so oft Zuflucht finden von den Strapazen des Alltags.

WM ohne Argentinien? Unvorstellbar

Eine Weltmeisterschaft ohne Argentinien ist nahezu undenkbar. Aber in der momentanen Verfassung der Mannschaft sollte man besser mit allem rechnen. Bauzas System des Ballbesitzfußballs mit geordneten Defensivphasen greift nicht. "Es herrscht seit langem keine Hegemonie mehr für Argentinien oder Brasilien wie das früher mal der Fall war", entschuldigte sich der Trainer in einem Interview mit dem "Kicker". Auf deutsch heißt das so viel wie: Es gibt keine kleinen Gegner mehr.

Das mag sein. Aber nicht die Gegner sind Argentiniens Problem - sondern Argentinien selbst. Der Verband ist ein einziges Chaos, derzeit wird er von einer von der FIFA geduldeten Kommission geleitet. Trotzdem blieb bisher der sportliche Erfolg, auch wenn die letzten drei großen Endspiele allesamt verloren wurden.

Ein Titel ist das Ziel, der Weg dorthin aber so beschwerlich wie lange nicht mehr. Bauza würde sich im WM-Finale von Moskau am liebsten Deutschland als Gegner seiner Mannschaft wünschen. "Das wäre eine Revanche für mich", sagt er. Bauza saß 1990 in Rom bei der Niederlage gegen Deutschland als Ersatzspieler nur auf der Bank.

Doch im Moment wäre ein möglicher Gegner in einem WM-Finale das kleinste aller Probleme. Argentinien muss zunächst den Weg nach Russland ebnen, um dann über die ganz großen Ziele fabulieren zu können. Und das ist schon schwer genug.

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