Stefan Effenberg hatte den erfolgreichsten Abschnitt seiner aktiven Karriere beim FC Bayern. Im Exklusiv-Interview spricht der heutige TV-Experte über das Champions-League-Aus seines Ex-Klubs sowie über den Endspurt in der Bundesliga. Außerdem fordert er mehr Spielzeit für den vielleicht "begehrtesten jungen Spieler, den man im europäischen Spitzenfußball hat".

Ein Interview

Herr Effenberg, der FC Bayern ist nach dem 1:1 im Rückspiel gegen Manchester City aus der Champions League ausgeschieden. Was war am Ende ausschlaggebend?

Stefan Effenberg: Ausschlaggebend war das 0:3 in Manchester im Hinspiel. Wenn man sich die Tore da noch einmal ansieht, sieht man drei individuelle Fehler. Beim ersten Tor sucht Jamal Musiala nicht wirklich den Zweikampf, beim zweiten war es Dayot Upamecano und beim dritten Tor ging das Kopfballduell mit Alphonso Davies voraus. Solche individuellen Fehler dürfen auf so einem Niveau nicht passieren. Und dann geht man mit dieser Hypothek ins Rückspiel. Und da ist genau das passiert, was nicht passieren darf: Du kassierst das erste Tor, anstatt selbst das erste zu machen. Es wäre wichtig gewesen, das Spiel lange offen zu halten. Eigentlich haben die Bayern es gut gemacht, sie hatten nur im Abschluss entweder Unglück oder Unvermögen. Wenn Leroy Sané in der 17. Minute seine Chance reinmacht, kommt nochmal eine ganz andere Energie ins Stadion. Wenn man beide Spiele betrachtet, war Bayern nicht unbedingt schlechter als Manchester City. Sie haben nur ihre Möglichkeiten in beiden Spielen nicht verwandelt.

Das Thema Chancenverwertung begleitet den FC Bayern bereits die gesamte Saison. Fehlt einfach nur Robert Lewandowski oder ein anderer Weltklassestürmer? Oder kann es dafür auch andere Gründe geben?

Ich erwarte schon von den Spielern, die auf dem Platz stehen, dass sie die Chancen, die sie herausspielen, auch nutzen. Aber im Hinblick auf die neue Saison muss man da auf jeden Fall etwas machen. Man braucht den Neuner. Die Vergangenheit zeigt, dass der FC Bayern immer von einer starken Nummer neun gelebt hat. Zum Beispiel Gerd Müller, Giovane Elber oder Robert Lewandowski. Man braucht diesen Garanten vorne, der diese Gefahr ausstrahlt. Hasan Salihamidzic hat zwar gesagt, man habe acht sehr starke offensive Spieler, die in Richtung Weltklasse gehen. Aber genau das ist eine Baustelle: Man hat zwar acht Offensive, aber eben keinen Garanten. Auch wenn Eric Maxim Choupo-Moting es natürlich immer ordentlich gemacht hat. Auf dem Niveau ist es aber schwierig, er ist auch verletzungsanfällig und hat mit seinen 34 Jahren ein gewisses Alter.

Thomas Müller nur auf der Bank: Effenberg hatte damit "ein bisschen Bauchschmerzen"

Thomas Müller war, wie im Hinspiel auch, nicht in der Startelf. Die richtige Entscheidung?

Er ist ein großartiger Spieler. Das hat er auf allen Ebenen im Weltfußball bewiesen. Ich hatte damit ein bisschen Bauchschmerzen, aber das ist die Entscheidung des Trainers. Jetzt aber zu sagen, es lag daran, dass Müller nicht gespielt hat, wäre zu einfach.

Nach seiner Einwechslung sorgte Mathys Tel schnell für Unruhe und erzielte sogar ein Tor, das nur wegen einer Abseitsposition des Vorlagengebers Kingsley Coman nicht gegeben wurde. Hätte er in Ihren Augen vielleicht mal eine Chance von Anfang an verdient?

Er ist ein hochtalentierter Spieler, vielleicht der begehrteste junge Spieler, den man im europäischen Spitzenfußball hat. Dann tut es schon weh, wenn er nicht so viel Spielzeit bekommt. Ich würde mir das wünschen. Ich vergleiche ihn ein bisschen mit Roque Santa Cruz, der ebenfalls mit 17 Jahren zum FC Bayern gewechselt war.

Der kam damals schrittweise auf immer mehr Spielzeit. Wenn jemand für so einen Millionenbetrag kommt, muss man das mit Spielzeit unterstützen. Sonst kann das in die andere Richtung gehen, wie beispielsweise aktuell bei Ryan Gravenberch, der mit seiner persönlichen Entwicklung unzufrieden ist. Das ist auch der schmale Grat beim FC Bayern: Gebe ich einem jungen Spieler das Vertrauen oder habe ich lieber einen fertigen Spieler? Ich würde mir wünschen, dass Tel in den nächsten Spielen wesentlich mehr Spielzeit bekommt. Das hätte er sich verdient.

Wie bewerten Sie die Schiedsrichterleistung? Die Bayern haben nach dem Spiel deutlich ihre Unzufriedenheit geäußert.

Das unterschreibe ich zwar, aber das darf jetzt nicht dafür herhalten, das Ausscheiden zu entschuldigen. Der Schiedsrichter war nicht gut, keine Frage. Die Torchancen aber haben die Spieler liegen lassen.

Effenberg: "Nach dem 0:1 muss man keine großen Zeichen mehr setzen"

Nach dem Rückstand fiel auf, dass keiner der Bayernspieler seine Mannschaftskameraden aufrüttelte, es waren hauptsächlich leere Blicke zu sehen. Sie hätten vom Typ her doch sicher die Truppe zusammengerauft, oder? Fehlt so jemand heute beim FC Bayern?

Das ist natürlich schwierig, weil man das 0:3 aus dem Hinspiel noch im Gepäck hat. Und dann ist mit dem Gegentor genau das passiert, was nicht passieren darf. Ich kann schon verstehen, dass die Körpersprache nach dem 0:1 eine andere war, weil du wusstest, dass das jetzt nicht mehr möglich ist. Es ging dann nur noch darum, das Ergebnis irgendwie zu drehen und ordentlich zu gestalten. Nach dem 0:1 muss man keine großen Zeichen mehr setzen.

Der Meisterschaftskampf in der Bundesliga ist derzeit spannend wie selten. Dortmund liegt nur zwei Punkte hinter den Bayern, mit etwas Abstand folgen Union Berlin, RB Leipzig und der SC Freiburg. Was glauben Sie, wer wird am Ende Deutscher Meister?

Der Druck ist enorm und liegt bei Bayern München. Ich bin mir aber ziemlich sicher, dass sie mit diesem Druck umgehen können und sich voll auf die letzten Bundesligaspiele fokussieren, um wenigstens noch die Meisterschaft zu holen. Ich glaube, dass Dortmund mit dem Unentschieden in Stuttgart vergangenes Wochenende psychologisch nicht gerade im Vorteil ist. Es wird nicht einfach, aber ich denke schon, dass die Bayern die Meisterschaft holen. Aber es ist gut, dass Bayern jetzt mal hart dafür arbeiten muss. So eine Phase ist auch wichtig für den Trainer und die Verantwortlichen, um zu sehen, auf welchen Spieler sie sich verlassen können.

Was läuft bei Bayern in dieser Saison falsch? Oder ist die Konkurrenz einfach nur näher herangerückt?

Ich sehe eine schwierige Saison für den FC Bayern. Aber wenn man zum Beispiel das Pokal-Aus gegen den SC Freiburg nimmt, muss man festhalten, dass das keine Laufkundschaft ist. Viele haben dazugelernt. Die anderen, zum Beispiel Leipzig, sind schon besser geworden. Sie profitieren aber auch von der Inkonstanz des FC Bayern.

Welche Rolle spielen die Bayernbosse? Die Verpflichtung Tuchels wurde damit begründet, dass man ein Verfehlen der sportlichen Ziele befürchtet. Seitdem ist der FC Bayern aber aus dem DFB-Pokal und der Champions League ausgeschieden. Lagen die Probleme am Ende also gar nicht bei Julian Nagelsmann?

Man muss da ein bisschen tiefer gehen. Man sollte nicht mehr zurückschauen. Es ist so, wie es ist. Was offensichtlich ist, ist, dass man einen Neuner braucht. Tuchel kann man nach der kurzen Zeit mit kaum Trainingseinheiten keine Schuld geben. Ich bin überzeugt, dass er der richtige Trainer ist und bin mir sicher, dass er das nächste Saison beweisen wird, wenn er die Zeit hat, den Kader ein Stück weit mit umzubauen und dann in die neue Saison zu starten.

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Beim FC Bayern gibt es aktuell noch ein weiteres Problem: einen Maulwurf. Immer wieder geraten Interna an die Öffentlichkeit. Zuletzt wurde zum Beispiel der Streit von Sadio Mané und Leroy Sané in der Kabine publik. Wie problematisch ist das Ihrer Meinung nach?

Es ist immer schwierig, so etwas zu moderieren. So etwas passiert auch bei anderen Vereinen und ist bei Bayern schon in der Vergangenheit vorgekommen. Man muss aber bedenken, dass in der Kabine nicht nur die Spieler sind, da sind 30 bis 40 Leute. Die Spieler stehen auch in Kontakt mit ihren Beratern und Familien und so weiter. Und wenn da mal etwas durchsickert, sehe ich da nicht unbedingt eine einzelne Person als Maulwurf, sondern das gesamte Umfeld. Da sind wir dann eher bei 500 bis 1.000 Leuten. Und dass da mal etwas durchsickert, ist dann gar nicht mehr so unwahrscheinlich. Am Ende muss man das gut moderieren. Mit solchen Dingen darfst du dich als Top-Klub gar nicht lange beschäftigen. Das hat Bayern im Fall Mané-Sané ganz gut gemacht.

Wie sehen Sie die Transfers? Einzeln betrachtet wirkten Namen wie Sadio Mané, Ryan Gravenberch, Matthijs de Ligt, Noussair Mazraoui oder Joao Cancelo sehr vielversprechend. Das Lob für Hasan Salihamidzic war groß. Eine wirkliche Verstärkung scheint bisher aber nur de Ligt zu sein. Von außen wurde bereits moniert, es handele sich zwar um gute Einzelspieler, die allerdings keine Einheit bilden.

Eine Einheit muss wachsen. Bei Mané zum Beispiel muss man sagen, dass er gut gestartet ist. Aber dann verletzte er sich und verpasste damit die WM, die aufgrund seines Alters möglicherweise seine letzte gewesen wäre. Das kann ein großes Kopfproblem sein. Natürlich hat man mehr von ihm erwartet, aber wenn eine langfristige Verletzung dazukommt und dieses mentale Problem auch noch, dann muss man ihm die Zeit geben. Es ist zudem problematisch, dass es in der Offensive acht Spieler gibt, aber drei oder vier von denen nicht spielen dürfen.

Wie blicken Sie auf die Zukunft des FC Bayern? Ist das nur eine kleine Formdelle oder doch eine längerfristige Krise?

Eine langfristige Krise sehe ich nicht, weil Bayern München in der Lage ist, Geld in die Hand zu nehmen, um die Probleme, zum Beispiel auf der Neunerposition, zu lösen. Ich bin mir sicher, dass sie das tun werden. Man muss die Mannschaft jetzt einschwören auf den Saisonendspurt und dann wieder auf die kommende Spielzeit. Dann kommen Tuchels Qualitäten auch erst wirklich zum Tragen. Dafür muss man jeden Tag hart arbeiten und es ist keine Selbstverständlichkeit, dass es so leicht ist wie in den vergangenen zehn Jahren. So eine Phase, wie jetzt, ist oft gut, um dir mal die Augen zu öffnen. So macht man sich intensivere Gedanken, was man anders machen kann.

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Über den Experten: Stefan Effenberg spielte in seiner aktiven Karriere unter anderem für den FC Bayern, Borussia Mönchengladbach und AC Florenz. Insgesamt machte er 370 Spiele in der Bundesliga (70 Tore). Seit August 2018 ist er als Experte in der Fußball-Talkshow "STAHLWERK Doppelpass" auf Sport1 (immer sonntags ab 11 Uhr) tätig.
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