Einen einzigen Dortmunder Spieler hat Julian Nagelsmann für die letzten Testspiele vor der EM-Nominierung eingeladen, die Vision eines "Borussia Deutschland" scheint aktuell in weiter Ferne. Der schwere Dämpfer für den BVB könnte aber auch ein Signal zur rechten Zeit sein.

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Weil ja bekanntlich das Leistungsprinzip zählt, durften sich Marius Wolf und Emre Can vor ziemlich genau einem Jahr über eine Einladung zu den Testspielen der deutschen Nationalmannschaft freuen. Borussia Dortmund hatte in den Wochen davor 28 von 30 möglichen Punkten zum Start der Rückserie geholt und in der Bundesliga die Tabellenspitze vom FC Bayern erobert.

Die Nationalmannschaft probte im Frühjahr 2023 gegen Peru und Belgien, damals noch unter der Anleitung von Hansi Flick. Der erkannte in Wolf, Can und den ebenfalls berufenen Nico Schlotterbeck und Niclas Füllkrug so etwas wie den Gold-Standard in punkto Widerstandskraft und Willensstärke und drei potenzielle Zugpferde für eine Mannschaft, die wenige Monate nach dem desaströsen WM-Aus in Katar dringend einen neuen Anstrich benötigte.

Borussia Dortmund stellte damals zusammen mit dem FC Bayern das jeweils größte Kontingent an Spielern für die Mission Wiederaufbau und den Start in die Vorbereitungen auf die Heim-EM. An den Dortmunder Spielern - auch der verletzte Julian Brandt stand auf der Liste - gab es jedenfalls kein Vorbeikommen.

BVB stellt so viele Spieler wie Heidenheim

Flicks Auftrag ist mittlerweile gescheitert, aber auch dessen Nachfolger Julian Nagelsmann dehnt die Zeit der Experimente nun offenbar maximal aus. Für die beiden letzten Länderspiele vor der Nominierung des vorläufigen EM-Kaders Ende Mai hat Nagelsmann gleich sechs Neulinge berufen und lässt zwölf Spieler zu Hause, die bei den letzten beiden Testspielen gegen die Türkei und Österreich noch im Kader standen.

Der Bundestrainer vertraut gegen die starken Gegner Frankreich und Niederlande auf die aktuell vermeintlich leistungsstärksten Spieler des Landes, große Namen spielten bei der Kadernominierung jedenfalls keine große Rolle. Das größte Kontingent stellt der FC Bayern mit fünf Spielern, gefolgt vom VfB Stuttgart mit vier und Bayer Leverkusen mit drei Spielern.

Das Spitzen-Trio der Bundesliga bildet also fast den halben Kader, für die Spieler von Borussia Dortmund blieb da offenbar kaum noch Platz. Niclas Füllkrug ist der einzige verbliebene Dortmunder im Kader, neun andere potenzielle BVB-Kandidaten konnte oder wollte Nagelsmann für die beiden sehr wichtigen Spiele Ende März nicht berufen. Überspitzt formuliert stellt der BVB nunmehr nur noch so viele Spieler wie Aufsteiger 1. FC Heidenheim im Ex-Dortmunder Jan-Niklas Beste.

Schwerer Dämpfer für den BVB

Mats Hummels, Niklas Süle und Schlotterbeck könnten theoretisch die komplette deutsche Abwehrkette bilden, das Trio wird die Partien gegen Frankreich und die Niederlande aber ebenso auf der Couch verfolgen müssen wie auch Can, Wolf, Brandt, Felix Nmecha, Karim Adeyemi und Youssoufa Moukoko.

Nun hat die Borussia die Nichtberücksichtigungen seiner Spieler nicht exklusiv, die schiere Masse aber ist schon ein deutlicher Fingerzeig und auch ein schwerer Dämpfer für den BVB und dessen Idee von vielen deutschen Nationalspielern im Kader.

Von "Borussia Deutschland" war schon zu lesen, weil die Dortmunder mit der Anzahl an Abstellungen für den DFB zwischenzeitlich sogar den Platzhirsch FC Bayern überflügeln konnten. Davon ist fast auf den Tag genau drei Monate vor dem Beginn der Europameisterschaft im eigenen Land kaum noch etwas geblieben.

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Nagelsmann und "das Momentum"

Nagelsmanns Idee, nun entgegen aller Ankündigungen doch noch einmal mit vielen neuen Spielern und ohne einen Schwung der Arrivierten einige Dinge auszuprobieren, ist riskant. Schließlich wurde unter anderem die zu große Experimentierfreude seinem Vorgänger letztlich zum Verhängnis. Und Zeit bleibt vor dem wichtigsten Turnier für den DFB seit der Heim-WM 2006 nun auch kaum noch.

Es gehe "um das Momentum", sagte Nagelsmann und führte als Beispiel die Stuttgarter Spieler ins Feld. "Vor einem Jahr wäre wohl keiner dabei gewesen, jetzt hätten es sogar noch zwei, drei Stuttgarter mehr sein können." Offenbar fährt der Bundestrainer jetzt die Schiene des maximalen Konkurrenzkampfs.

Mit noch mehr potenziellen Spielern im Kader oder im Hintergrund erweitert sich der Pool an Kandidaten automatisch, was wiederum den Druck auf alle Beteiligten erhöht. Der Bundestrainer kann im Mai aus 35, vielleicht sogar 40 Spielern auswählen und dürfte längst schon ein Gerüst aus 16, 17 feststehenden EM-Fahrern im Kopf haben. Ab sofort und bis zum Ende der Saison läuft ein hochbrisantes Casting um nur wenige Plätze - in dem natürlich auch weiterhin die Dortmunder Spieler ihre Chancen haben.

Kleiner Vorteil Champions League

Vielleicht ist die schroffe Abweisung des Bundestrainers, die in der Fülle kein Zufall sein kann, ja auch ein Weckruf zur rechten Zeit: für Schlotterbeck, für Süle, Brandt und Can. Vielleicht drehen die Spieler aus der zweiten Reihe wie Adeyemi, Nmecha, Moukoko ja noch einmal auf. Oder bewährt sich Mats Hummels in der Schlussphase der Saison wieder als Stammkraft im Verein.

In der Liga und in der Champions League: Diese Bühne haben die Schwarz-Gelben im Vergleich zu den Emporkömmlingen aus Stuttgart, Hoffenheim oder Heidenheim zumindest exklusiv. Hier beweist sich internationale Klasse, wird wertvolle Erfahrung gesammelt im direkten Vergleich mit Weltklassespielern und -mannschaften.

Eine Europameisterschaft im eigenen Land mit nur einem oder zwei Spielern von Borussia Dortmund im deutschen Kader? Aktuell gibt das Leistungsprinzip diese Aussicht auf jeden Fall her. Noch bleibt den BVB-Spielern aber genug Zeit, daran etwas zu verändern.

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