Jürgen Kohler spielte in seiner aktiven Zeit für den FC Bayern München und für Borussia Dortmund. Vor dem Top-Spiel der Bundesliga zwischen Dortmund und Bayern (Samstag, 18:30 Uhr) spricht der frühere Nationalspieler über die Chancenverhältnisse, die Stärken und Schwächen beider Mannschaften sowie über die Pokal-Pleite des FC Bayern.

Ein Interview

Herr Kohler, welche Auswirkungen könnte die Pokal-Blamage des FC Bayern München gegen den 1. FC Saarbrücken auf das Bundesligaspiel gegen Borussia Dortmund haben?

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Der FC Bayern steht durch diese überraschende Niederlage stärker unter Druck, denn ein Titel ist schon einmal weg. Und der DFB-Pokal ist ja eigentlich der einfachste Titel, den man in Deutschland gewinnen kann. Das darf ich eigentlich gar nicht so laut sagen, weil ich den Pokal nie gewonnen habe (lacht).

Der FC Bayern wird eine Reaktion zeigen wollen, hat aber personelle Probleme. Joshua Kimmich ist gesperrt, Matthijs de Ligt ist verletzt. Das macht die Sache nicht einfacher. Mal sehen, ob Leon Goretzka spielen kann und vielleicht als Innenverteidiger einspringen muss. Der Kader des FC Bayern ist momentan etwas dünn. Das wird ein interessantes Spiel.

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"Leverkusen hat sehr sinnvolle Verpflichtungen getätigt"

Jürgen Kohler

Ist Borussia Dortmund für Sie der Meisterschafts-Konkurrent Nummer 1 oder ist eher Bayer Leverkusen als Tabellenführer ein Meisterschafts-Kandidat?

Stand heute gehe ich davon aus, dass Bayern, Dortmund, Leverkusen und Leipzig um den Titel spielen werden. Leverkusen hat sehr sinnvolle Verpflichtungen getätigt und spielt bislang sehr gut. Die Frage ist nur, ob sie diese Form über die komplette Saison beibehalten können.

Sie hatten bislang den Vorteil, dass sie in der Gruppenphase der Europa League nicht die ganz großen Gegner hatten und dadurch viel durchwechseln konnten. Wenn die Gegner stärker werden, könnte sich das ändern. Dann wird sich zeigen, wie sie als Mannschaft damit umgehen.

Wie schätzen Sie als ehemaliger Innenverteidiger die Abwehr von Bayern München und Borussia Dortmund ein?

Beide Mannschaften haben hier noch ein paar Defizite, denn sie ermöglichen auch schwächeren Gegnern immer wieder Tormöglichkeiten. Bayern wie auch Dortmund sind sehr anfällig für gegnerische Konterangriffe. Das wird vielfach durch die starken Offensiven beider Mannschaften kaschiert. Aber schießen sie einmal nicht ausreichend Tore, wie zum Beispiel jetzt im Pokal-Spiel gegen Saarbrücken, wird das eventuell bestraft.

Nicht umsonst sagt man: Die Meisterschaften werden hinten gewonnen! Wenn du es nicht schaffst, eine gewisse Stabilität und Homogenität in die Mannschaft zu bekommen, wird das schwierig. Um auf die Frage von eben zurückzukommen: Hier sehe ich auch bei Bayer Leverkusen ein Problem. Sie sind in der Offensive sehr stark, aber nicht unbedingt in der Abwehr.

Leroy Sane befindet sich - sieht man einmal von dem Pokal-Spiel in Saarbrücken ab - in einer herausragenden Form. Lothar Matthäus glaubt, dass er in dieser Form sogar ein Kandidat als Weltfußballer wäre. Sehen Sie das auch so?

Nein. Es ist unbestritten, dass er sich in einer sehr guten Form befindet. Aber ob das anhält? Gerade bei ihm haben wir schon oft das Gegenteil gesehen – viel Licht, dann wieder viel Schatten! Ich tue mich schwer, wenn Spieler zu früh als Weltklasse bezeichnet werden. Das trifft für mich auf Spieler zu, die Dekaden prägen. Lionel Messi ist Weltklasse, Cristiano Ronaldo war Weltklasse, Zinedine Zidane auch – um ein paar Beispiele zu nennen. Trotzdem muss man anerkennen, dass Sane eine starke Saison spielt.

"Ich glaube, dass beide Mannschaften momentan in keiner Top-Verfassung sind."

Jürgen Kohler

Lassen Sie uns insgesamt über die Offensiven von Bayern München und Borussia Dortmund sprechen. Bayern-Stürmer Harry Kane hat in der laufenden Bundesliga-Saison bereits zwölf Tore erzielt, Sane acht Treffer. Bei Borussia Dortmund ist Julian Brandt mit lediglich vier Toren der Top-Torschütze. Steckt hier der größte qualitative Unterschied?

Wenn man sich diese Zahlen anschaut, kann man das so sagen. Andererseits könnte man auch sagen, bei Borussia Dortmund verteilt sich das auf mehrere Schultern. Ich glaube, dass beide Mannschaften momentan in keiner Top-Verfassung sind.

Dortmund hat zwar in der vergangenen Woche bei Newcastle United 1:0 gewonnen, aber das lag vor allem an Torwart Gregor Kobel. Beiden Mannschaften fehlt diese Aura, die einem das Gefühl gibt, sie könnten jederzeit noch einmal zulegen und das Spiel drehen. Aber bei Dortmund stimmen momentan zumindest die Ergebnisse.

Dies lässt sich beim FC Bayern nach dem Pokal-Aus natürlich nicht mehr behaupten. Sie haben gerade BVB-Torwart Kobel gelobt, der sich in einer guten Form befindet. Manuel Neuer hingegen war sehr lange verletzt und hat nun erst zwei Pflichtspiele bestritten. Kann das für Dortmund ein Vorteil sein?

Das kann ein Vorteil sein, muss es aber nicht. Manuel Neuer ist sehr erfahren. Wenn er und sein Staff das Gefühl haben, dass bei ihm alles in Ordnung ist, dann ist er auch voll einsetzbar. Natürlich braucht man normalerweise ein paar Spiele, um wieder in Top-Form zu gelangen. Es wäre vermessen zu glauben, dass er bereits jetzt wieder sein höchstes Niveau hat. Aber er ist ohne Frage ein Top-Torhüter.

Man muss ihm trotzdem ein bisschen Zeit geben, um wieder richtig in den Spielrhythmus zu gelangen. Diesen Rhythmus bekommst du nicht bis zum Winter. Man muss bis zum Ende der Saison schauen, ob sich seine Leistung stabilisiert hat und ob er wieder der Unterschiedsspieler ist, der er all die Jahre gewesen ist. Er war nämlich über eine sehr lange Zeit gemeinsam mit Robert Lewandowski der Mann, der beim FC Bayern den Unterschied ausgemacht hat.

Letzte Frage: Wie lautet Ihr Tipp für Samstag?

Ich tippe auf ein 1:1.

Über den Gesprächspartner:

  • Jürgen Kohler absolvierte als Abwehrspieler zwischen 1986 und 1998 für Deutschland 105 Länderspiele. Auf Vereinsebene spielte er unter anderem für den FC Bayern München, Borussia Dortmund und Juventus Turin. Als Trainer war er zuletzt für die U19 von Viktoria Köln zuständig und führte die Mannschaft in die A-Junioren-Bundesliga. Zudem ist Kohler Inhaber einer Immobilienfirma.
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