Die Bayern erdrücken Leipzig eine Halbzeit lang förmlich, bis der Herausforderer die richtigen Schlüsse zieht und sich ein Spiel auf Augenhöhe entwickelt – was als gutes Zeichen für die Münchener Konkurrenz zu werten ist.

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Manchmal erzählt eine einzige Szene eine komplette Saison. Noch ist natürlich nicht klar, was an den noch ausstehenden 30 Spieltagen so alles passieren wird. Aber diese eine Sequenz war ja wie gemalt für die Bayern:

Die letzte Aktion eines großen, hitzigen, am Ende dramatischen Spiels: ein Freistoß aus dem Halbfeld. Niklas Süle kommt mit dem Kopf an den Ball, setzt seinen Versuch aus spitzem Winkel aufs lange Eck. Leipzigs Peter Gulacsi ist noch am Ball, der deshalb nicht ins Netz, sondern vorbei ins Aus schrammt und dabei auch noch den linken Pfosten streichelt.

Der sprichwörtliche Bayern-Dusel schlug dieses eine Mal nicht zu, was zum einen eine schöne Nachricht für RB Leipzig war und zum anderen hoffen lässt für die Kontrahenten im Kampf um die Meisterschaft. Auf siegbringende Treffer in der letzten Sekunde eines Spiels besitzen die Bayern ja das Copyright. Aber vielleicht wird in dieser Saison doch alles ein bisschen anders?

Überragende erste Hälfte der Bayern

Das Anfangsstadium der neuen Spielzeit jedenfalls lässt darauf hoffen. Die Bayern haben nach vier Spieltagen einen Rückstand auf Leipzig (zwei Punkte) und Dortmund (einen Punkt), zum selben frühen Zeitpunkt der vergangenen Saison hatten die Bayern bereits vier Punkte Vorsprung auf den BVB und sogar deren sieben auf Leipzig.

Auch beim ersten Highlight der Saison in Leipzig waren die Bayern wie Blitzstarter, was sich nicht nur im frühen 0:1 durch Robert Lewandowski widerspiegelte, sondern in der Art und Weise, wie die Bayern den Gegner beherrschten.

Bayern kopiert Leipzigs Spielstil

Die Münchener begegneten Leipzig nämlich mit ein paar typischen RB-Stilmitteln: Um das Pressing des Gegners erst gar nicht ins Rollen kommen zu lassen, schufen die Münchener im Zentrum des Spiels in der eigenen Hälfte stets eine deutliche Überzahl in Ballnähe. Joshua Kimmich und Thiago ließen sich dafür beide zurückfallen und machten aus einer Fünf-gegen-Fünf-Pattsituation eine Sieben-gegen-Fünf-Überzahl.

Ganz bequem ließ der Rekordmeister so Leipzigs wütende Attacken gegen den Ball ins Leere laufen und kontrollierte in der ersten Halbzeit derart Ball und Gegner, wie man es in Leipzig noch nie gesehen hat:

Nur 24 Prozent eigener Ballbesitz - mit weitem Abstand Negativwert für Leipzig in der Bundesliga. Ebenso wie die 91 Prozent Passquote der Bayern: So sauber ließ noch keine Leipziger Mannschaft den Gegner aufbauen.

Bayern-Trainer Kovac: "Sensationell gespielt"

Dass die Bayern ihre logische Unterzahl auf dem Rest des Spielfeldes nicht zum Verhängnis wurde, dafür sorgten Kingsley Coman und Serge Gnabry: Deren Einrücken verstärkte den Überzahleffekt im Zentrum des Spiels und ihre explosiven Dribblings banden Leipzigs Flügelverteidiger sehr tief - und sorgten ein ums andere Mal für Chaos in der Restverteidigung der Gastgeber.

Die Bayern spielten so flüssig und dominant wie schon seit sehr langer Zeit nicht mehr. "Die erste Halbzeit war fantastisch, wir haben sensationell gespielt. Ich kann mich nicht daran erinnern, in der letzten Saison so dominant gespielt zu haben", sagte Trainer Niko Kovac bei Sky.

Leipzig läuft Bayern eine Halbzeit nur hinterher

Auch vom Gegner prasselten die Komplimente auf die Bayern nur so ein. "Wir haben die Mitte nicht zubekommen und sind nur hinterher gelaufen. Wir konnten nach unserer ersten Halbzeit sehr, sehr froh sein, mit einem Unentschieden in die Pause zu kommen", musste Yussuf Poulsen zugeben.

Der Däne war der entscheidende Baustein in Nagelsmanns neuem Plan, weil er als Zehner die Kreise von Kimmich und Thiago störte und den Bayern-Motor damit zum Stottern brachte.

Leipzigs Umstellung greift voll

Dass das Münchener Gebilde nämlich weiter ein wackeliges bleibt, zeigte die zweite Hälfte recht deutlich. Mit Leipzigs Umstellung auf ein 4-2-3-1 und damit eine massive Präsenz im Zentrum war es schnell vorbei mit der Münchener Dominanz.

Stattdessen wurde nun fast jeder bayerische Ballverlust zu einem Bumerang, lud Leipzig zu Kontern ein und spielte Nagelsmanns Mannschaft damit in die Karten.

"Wir hatten viel zu einfache Ballverluste in der zweiten Halbzeit, so etwas darf in einem Auswärtsspiel nicht passieren. Das war gegen eine schnelle, konterstarke Mannschaft wie RB unser großes Problem", sagte Torwart Manuel Neuer, der sich nicht nur über die Frustaussagen seines DFB-Kollegen Marc-André ter Stegen ärgerte, sondern zudem über den völlig unnötigen Elfmeter für Leipzig kurz vor dem Halbzeitpfiff echauffierte: "In der Nachspielzeit der ersten Halbzeit darf uns so ein Elfmeter nicht passieren."

FC Bayern münzt Überlegenheit nicht in Tore um

Der Strafstoß und der damit verbundene Ausgleichstreffer durch Emil Forsberg war das Signal zur Wende in dieser Partie. Die Bayern verpassten es bis dahin, ihre turmhohe Überlegenheit in noch mehr Tore umzumünzen, während Leipzig bis zu dieser entscheidenden Szene quasi nur hinterher lief.

Aber Leipzig schaffte es in dieser Partie, sich in kurzer Zeit von einem scheinbar hoffnungslos unterlegenen Gegner zu einem Kontrahenten auf Augenhöhe aufzuschwingen - was nicht nur in diesen 90 Minuten zur Punkteteilung gereichte, sondern auch symbolisch zu verstehen ist für den Rest der Saison.

"Gefühlter Sieg" für RB

Leipzig widerstand seinem Angstgegner aus München, gegen den es vor der Partie in acht Spielen schon fünf zum Teil empfindliche Niederlagen setzte. Und deshalb verabschiedeten sich die Gastgeber deutlich besser gelaunt in die Nacht als ihre Gäste aus München.

"Wir haben eigentlich gut gespielt, aber zwei Punkte weniger als eingeplant. Deshalb sind wir enttäuscht und verärgert", sagte Kovac, während auf Leipziger Seite verdächtig oft die Einschätzung vom "gefühlten Sieg" zu vernehmen war.

Die Leipziger jedenfalls scheinen mit Julian Nagelsmann an der Seitenlinie und der Verbindung aus gelerntem RB-Fußball und Ballbesitz- und Positionsspiel noch einiges an Potenzial entwickeln zu können.

Die Fantasie, zusammen mit Borussia Dortmund und vielleicht auch Bayer Leverkusen für einen spannenden Titelkampf zu sorgen, ist zumindest schon mal angeregt. "Wir sind nicht einzige Mannschaft, die die Bayern jagen will, das wollen alle. Dazu müssen wir aber sehr stabil sein", fasste es RB-Trainer Nagelsmann im ZDF zusammen.

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