Der frühere Nationalspieler Jürgen Kohler spielte in seiner aktiven Zeit für den FC Bayern München und für Borussia Dortmund. Vor dem Top-Spiel der Bundesliga zwischen Bayern und Dortmund (Samstag, 18:30 Uhr) schätzt er im Exklusiv-Interview die Situation der beiden Mannschaften ein.

Ein Interview

Herr Kohler, das Top-Spiel zwischen dem FC Bayern München und Borussia Dortmund wird das erste Spiel für den neuen Bayern-Trainer Thomas Tuchel sein. Haben Sie Verständnis für den Trainerwechsel?

Jürgen Kohler: Wir wissen natürlich nicht, wie die Stimmung intern gewesen ist, also welche Spieler für und welche gegen Julian Nagelsmann waren. Aber wenn die Verantwortlichen zu der Entscheidung kommen, dass ein Trainerwechsel erforderlich ist, muss man das akzeptieren.

Der FC Bayern hatte in dieser Saison Leistungsschwankungen. Ich denke, was das Fass zum Überlaufen gebracht hat, war, dass der FC Bayern neun Punkte Vorsprung auf Borussia Dortmund verschenkt hat. So etwas gab es vermutlich seit 15 oder 20 Jahren nicht mehr. Natürlich kann der FC Bayern weiterhin alle drei Titel gewinnen. Aber dieser Fakt lässt sich nicht wegdiskutieren. Und eines ist auch klar: Einen guten Zeitpunkt für einen Trainerwechsel gibt es nie.

Inwiefern konnte Thomas Tuchel innerhalb von wenigen Trainingstagen vielleicht Einfluss auf die Mannschaft nehmen?

Es ist nicht möglich, in dieser kurzen Zeit neue Trainingsinhalte zu vermitteln. Ich denke, dass er Einzelgespräche geführt hat. Er wird in die Mannschaft hineingehört haben. Was lief gut? Was lief schlecht? Haben sich die Spieler auf ihrer Position wohlgefühlt? Dementsprechend wird er die Mannschaft auf das Spiel gegen Dortmund einstellen. Tuchel hat selber Dortmund trainiert. Einige Spieler vom BVB kennt er noch aus dieser Zeit, weiß also um deren Stärken und Schwächen. Das kann ein Vorteil sein.

Formtief des FC Bayern: Wieso schwächeln die Münchner in der Bundesliga?

Wo sehen Sie die Gründe dafür, dass der FC Bayern in der Champions League die Top-Vereine Paris Saint-Germain, den FC Barcelona und Inter Mailand bezwingt, aber in der Bundesliga Probleme hat?

Barcelona und Mailand sind für mich keine Top-Vereine mehr. Grundsätzlich hat noch keine Mannschaft in der Champions League überzeugt. Der FC Bayern hat sich zwar immer durchgesetzt und war in zwei Spielen die bessere Mannschaft. Aber sie haben die gegnerischen Mannschaften nicht in Grund und Boden gespielt wie beim Triple-Sieg 2020. Der FC Bayern ist über die gesamte Saison gesehen sehr schwankend, hat aber in den entscheidenden Champions-League-Spielen funktioniert.

Ist der FC Bayern in der Bundesliga vielleicht weniger motiviert als in der Champions League?

Nein, das glaube ich nicht. Aber es fehlen mit Manuel Neuer und Robert Lewandowski zwei Schlüssel-Faktoren auf dem Platz. Lewandowski lässt sich auch durch einen Eric Maxim Choupo-Moting, der das insgesamt gut macht, nicht ersetzen. Und Neuer war ebenfalls eine wichtige Stütze, die momentan fehlt. Der eine hat die Tore geschossen, der andere hat die Gegentore verhindert. Wenn eines von beiden fehlt, sind die Spiele schwieriger zu gewinnen. Das zeigt sich in dieser Saison speziell in der Bundesliga.

Borussia Dortmund hat nach der WM-Pause neun von zehn Bundesligaspiele gewonnen und in dieser Phase zehn Punkte mehr geholt als der FC Bayern. Wo liegt der Grund für die starke Form des BVB?

Das hängt mit den Verstärkungen und mit der Systemumstellung zusammen. In der Innenverteidigung setzen sie auf Niklas Süle und Nico Schlotterbeck, die im Spiel nach hinten sehr viel Geschwindigkeit haben. Das verändert das Spiel. In den vergangenen ein, zwei Jahren hat Dortmund oft mit einer Dreierkette agiert, nun spielen sie mit einer Viererkette. Sie kassieren noch immer zu viele Gegentore, haben aber mehr Stabilität und dadurch neun Bundesligaspiele zu Null gewonnen.

Sie nehmen die gegnerischen Mannschaften nicht immer auseinander. Aber sie haben einen positiven Lauf, sind dadurch stabiler und selbstbewusster. Die Spieler verteidigen gerne. Dadurch können sie zum großen Wurf ausholen. Denn im Spiel nach vorne waren die Dortmunder eigentlich immer gut.

Nun kommt auch noch hinzu, dass der BVB durch die Genesung von Sebastien Haller, der in der Hinrunde komplett gefehlt hat, im Sturm noch eine Option mehr hat. Er ist ein völlig anderer Stürmertyp als Youssoufa Moukoko, weil er auch Räume für die Mitspieler schafft.

Großer Schritt in Richtung Meisterschaft: Wer gewinnt den Klassiker?

Wie beurteilen Sie die Arbeit von Trainer Edin Terzic?

Ich kann seine Trainingsarbeit nicht bewerten, weil ich nicht beim Training dabei bin. Aber er ist zur richtigen Zeit am richtigen Ort. Im Gegensatz zu seinem Vorgänger hat er fünf Nationalspieler hinzubekommen. Die Qualität der Mannschaft ist höher, der interne Konkurrenzkampf größer. Auch ein Spieler wie Julian Brandt hat sich unter ihm toll entwickelt und spielt in der Rückrunde überragend. Richtig ausgewogen ist die Mannschaft trotzdem noch nicht.

Was könnte für den FC Bayern und für Borussia Dortmund der Schlüssel zum Sieg sein?

Beide brauchen defensive Stabilität und müssen vorne die wenigen Torchancen, die sie vermutlich haben werden, nutzen. In den letzten Jahren konnte Dortmund in München nicht glänzen. Ich glaube aber, dass beide Mannschaften mit offenem Visier spielen werden. Beide Mannschaften sind in etwa gleich stark. Entscheidend ist, wer den Sieg mehr will.

Wie lautet ihr Tipp?

Ich würde mir ein schönes 2:2 oder 3:3 wünschen. Das würde zwar nicht für die Abwehr sprechen, aber für ein richtig gutes Bundesligaspiel. Unabhängig vom Spielausgang bleibt der Meisterschaftskampf spannend. Dieser wird wahrscheinlich erst an den letzten sieben Spieltagen entschieden.

Sie haben früher für beide Vereine gespielt. Mit welchem Club fühlen Sie sich mehr verbunden?

Ich fühle mich mit allen Vereinen verbunden, für die ich früher gespielt habe. Aber da ich sieben Jahre in Dortmund war, habe ich zu den Menschen im Ruhrgebiet eine größere Verbindung aufgebaut. Es würde mich freuen, wenn sie wieder einmal Grund zum Feiern hätten.

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Über den Experten: Der frühere Abwehrspieler Jürgen Kohler absolvierte zwischen 1986 und 1998 für Deutschland 105 Länderspiele. Auf Vereinsebene spielte er unter anderem für den FC Bayern München, Borussia Dortmund und Juventus Turin. Als Trainer war er zuletzt für die U 19 von Viktoria Köln zuständig und führte die Mannschaft in die A-Junioren-Bundesliga. Zudem ist Kohler Inhaber einer Immobilienfirma.
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