Vor dem Start der neuen Bundesliga-Saison spricht Ex-Verteidiger Jürgen Kohler im Interview mit unserer Redaktion über Borussia Dortmund und die Baustellen dort. Der Weltmeister von 1990 sieht auch andere Klubs in der Pflicht, um den Titel mitzuspielen und hat einen Wunsch für die nächsten zwei Jahre.

Ein Interview

Herr Kohler, auf wen oder was freuen Sie sich am meisten in der neuen Bundesligasaison, die bald beginnt?

Mehr News zu Borussia Dortmund

Jürgen Kohler: Ich hoffe, dass die Bundesligasaison genauso spannend bleiben wird wie im vergangenen Jahr. Aber ich habe leichte Zweifel. Im vergangenen Jahr war natürlich die Chance riesig, dass auch ein anderer Verein mal Meister werden kann, weil die Bayern die letzten zwei Jahre schon ein bisschen geschwächelt haben. Und da wäre es natürlich schön gewesen, wenn mal wieder jemand anderes der Meister geworden wäre. Auch wenn ich das natürlich den Bayern gönne.

Harry Kane ist beim FC Bayern gelandet. Inwieweit wird auch die Bundesliga von der Verpflichtung profitieren? Oder glauben Sie, dass allein nur der FC Bayern davon profitieren wird?

In erster Linie natürlich erst mal der FC Bayern. Man hat einen Stürmer aus England geholt, der über viele Jahre eine sehr, sehr gute Trefferquote hatte. Wobei das Spiel natürlich in England auch ein Stück weit anders ist als in Deutschland, Spanien oder Italien. Muss man auch so ganz offen ansprechen. Ja, für die Bundesliga ist das natürlich ein i-Tüpfelchen. Es ist ein richtiges Bonbon. Ob dann Bayern die Titel gewinnen kann, die man davon erhofft, das wird sich zeigen. Spätestens nach zehn, zwölf Spieltagen wird man das sehen.

Wenn man allgemein auf die Bundesliga blickt, welche Mannschaft oder welcher Spieler hat für Sie das Potenzial zur Überraschung in der kommenden Saison?

Eigentlich, sage ich mal, ist für mich Jamal Musiala ein Spieler, der aufgrund seiner Jugend und seiner Fähigkeiten auch ein sehr guter Spieler werden kann.

Kohler über Musiala: "Bringt vom Talent her alles mit"

Also noch besser?

Ich sage mal beständiger, mit noch mehr Abschlüssen, mit noch mehr Toren, mit noch mehr Torvorlagen, weil er einfach vom Talent her alles mitbringt. Aber ich tue mich auch schwer, wenn man immer nur von Talenten spricht. Aber ja, auch für ihn zählt es jetzt. Er hat die letzten Spiele nicht als Stammspieler agiert, sondern kam als Joker in die Partie. So hat er auch das entscheidende Tor gegen Köln zur Meisterschaft erzielt. Ich selbst war dort im Stadion und da hast du eigentlich schon bei jeder Ballannahme gesehen, dass zumindest eine gefährliche Situation entstehen kann.

Ihr Ex-Klub Borussia Dortmund hatte vergangene Saison die große Chance, Meister zu werden. Glauben Sie, dass diese Art und Weise, wie dann auf der Zielgeraden doch wieder der Titel verspielt wurde, Spuren hinterlassen hat? Oder konnte man das jetzt in der Sommerpause komplett abschütteln?

Also komplett abschütteln wird man das nicht können. Das wäre, glaube ich, auch vermessen. Wie gesagt, es kamen viele Faktoren zusammen. So hat Dortmund eine sehr gute Rückrunde gespielt. Aber es war auch so, dass Bayern eine katastrophale Rückrunde gespielt hat, im Prinzip sehr viele Punkte schon hergegeben hat, was eigentlich für Bayern München ungewöhnlich ist. Wenn die mal sieben, acht Punkte voraus sind, dann ist es unheimlich schwer, die wieder einzuholen. Aber die vergangene Saison hat dann schon gezeigt, dass die Bayern verwundbar sind.

Also glauben Sie, dass da noch irgendwas in den Kleidern hängt bei Dortmund?

Da bin ich überzeugt, dass gerade bei engen Spielen, egal ob das jetzt Pokal, Champions League oder Deutsche Meisterschaft sein wird, da wird das natürlich schon im Hinterkopf drin sein. Es ist nicht ganz so schnell weg, wie man immer gern die Plattitüde benutzt 'Neue Saison, neues Glück'. Es macht schon was mit den Spielern.

BVB-Transfers? "Sehe da noch Luft nach oben"

Ein Dortmunder Neuzugang hat bereits vor seiner Verpflichtung für Aufsehen gesorgt. Die Rede ist von Felix Nmecha, der von den Fans kritisiert wurde für seine Aktivitäten in den sozialen Medien, die nicht mit den Vereinswerten übereinstimmen. Können Sie nachvollziehen, dass die Fans sich darüber ärgern?

Ja klar, kann man schon, wenn es denn so gewesen ist. Wie das beschrieben wurde, kann man natürlich da schon den Unmut der Leute verstehen. Aber entscheidend ist, was die Verantwortlichen in den Gesprächen für sich herausgefiltert haben. Und das scheint ja in Ordnung zu gehen. Und von daher muss man dann eben die Entscheidungen akzeptieren. Und für die Mannschaft ist er auch ein wichtiger Spieler, sonst wäre er nicht Nationalspieler geworden.

In Dortmund sind die Transfer-Planungen noch nicht ganz abgeschlossen. Wo sehen Sie beim BVB aktuell Bedarf?

Für mich ist immer noch die klare Sechser-Position nicht richtig gut ausgefüllt. Außerdem sehe ich auf der linken Außenverteidiger-Position noch Bedarf. Was passiert, wenn Sebastien Haller wieder verletzt sein sollte? Das kann ja auch passieren. Hat man dann den richtigen Backup mit Youssoufa Moukoko. Ich setze ein kleines Fragezeichen. Das sind schon noch ein paar Baustellen, aber dasselbe ist es bei Bayern München auch. Dann muss man schauen, wie ist es mit der Innenverteidigung? Aber da sehe ich auch noch Luft nach oben, weil auch Dortmund im letzten Jahr zu viele Gegentore bekommen hat. Genauso wie Bayern München.

Was glauben Sie, was in dieser Saison für Dortmund in der Liga drin ist? Wird man wieder der klare Zweite?

Der zweite Platz ist kein Erfolg. Klar, man generiert mehr Einnahmen. Aber Vereine und Spieler wollen natürlich auch Titel gewinnen. Dortmund hat sicherlich das Potenzial dazu, einen Titel zu gewinnen. Muss man einfach ganz klar sagen. Sie haben nach meinem Wissen auch einen sehr hohen Etat. Und immer zu sagen, die Bayern nehmen 100 Millionen Euro mehr ein, aber die haben sie jetzt für einen Spieler ausgegeben. Ich weiß nicht, ob ein Spieler so viel Unterschied macht. Das muss man abwarten. Klar ist, dass Bayern München sich diesen Status erarbeitet hat in den letzten zwölf Jahren. Wenn du zwölfmal hintereinander Deutscher Meister wirst und zwischendurch auch mal Champions League Sieger und das Triple zweimal in zwölf Jahren, dann hast du vieles richtig gemacht. So ist es dann kein Zufall mehr. Alle anderen Vereine müssen daran arbeiten, dies zu ändern. Es ist mir zu einfach, zu sagen, dass nur Dortmund in der Lage ist, mit den Bayern mitzuhalten.

Kohler über Spannung im Titelkampf: "…und dann die Antwort nicht Bayern ist"

Welche Vereine sehen Sie in der Pflicht, auch an die Spitze kommen zu wollen?

Ich frage mich schon: Was ist mit Wolfsburg? Was ist mit Leverkusen? Was ist mit Leipzig? Wo, soweit ich weiß, ordentlich bezahlt wird. Selbst in den Achtzigern oder in den Neunzigern, wo Bayern auch schon immer vorne war, gab es immer wieder mal andere Mannschaften. Kaiserslautern hat außerplanmäßig Titel geholt, auch Werder Bremen hat das geschafft. Aber das wäre schön, wenn das in den nächsten zwei Jahren mal wieder passieren würde, sodass man sagt, wer ist denn in Deutschland Meister oder Pokalsieger geworden? Und dann die Antwort nicht Bayern ist.

Abschließend noch eine etwas persönlichere Frage. Wenn wir uns jetzt diesen Wahnsinn auf dem Transfermarkt und auch die ganzen Summen, über die spekuliert wird, anschauen, sind Sie da manchmal neidisch, dass Sie nicht jetzt Fußballprofi sind? Oder sind Sie ganz froh, dass Sie früher Fußballprofi waren, wo die Zeiten vielleicht noch anders waren?

Ich habe auch in einer tollen Zeit Fußball spielen dürfen, wo auch nicht so ganz so schlecht verdient wurde. Also zwar nicht in dem Ausmaß, wie das heute ist. Aus meiner Sicht ist das aber keine gute Entwicklung für die Spieler und schon gar nicht für die Vereine.

Warum sehen Sie diese Entwicklung kritisch?

Zunächst einmal freuen sich die Berater am meisten aufgrund der Provisionen, die inzwischen enorm sind. Vor zwei oder drei Jahren hat die DFL den Durchschnittsverdienst in der Bundesliga mit circa zwei Millionen Euro geschätzt. Ist ein Spieler also schätzungsweise zehn Jahre dabei, kann man sich ganz gut ausrechnen, was unterm Strich dann in seinem Geldbeutel bleibt, egal ob er spielt oder nicht. Das finde ich bedenklich.

Zur Person:
Jürgen Kohler lief 105-mal für die deutsche Nationalmannschaft auf und wurde 1990 Weltmeister in Italien. Seine aktive Laufbahn begann bei Waldhof Mannheim und führte ihn über Köln, Bayern München und Juventus Turin schließlich zu Borussia Dortmund. Dort gewann er unter anderem die Champions League sowie die Deutsche Meisterschaft.
Interessiert Sie, wie unsere Redaktion arbeitet? In unserer Rubrik "So arbeitet die Redaktion" finden Sie unter anderem Informationen dazu, wann und worüber wir berichten, wie wir mit Fehlern umgehen und woher unsere Inhalte kommen. Unsere Berichterstattung findet in Übereinstimmung mit der Journalism Trust Initiative statt.
JTI zertifiziert JTI zertifiziert

"So arbeitet die Redaktion" informiert Sie, wann und worüber wir berichten, wie wir mit Fehlern umgehen und woher unsere Inhalte stammen. Bei der Berichterstattung halten wir uns an die Richtlinien der Journalism Trust Initiative.