• Robert Habeck, von der eigenen Partei als "Spitzenkandidat" bezeichnet, unterstützt Annalena Baerbock bei dem Ziel, die Grünen ins Kanzleramt zu führen.
  • Der Bundesvorsitzende der Grünen spricht im Exklusivinterview über Baerbocks Fehler im Wahlkampf und die Desinformationskampagnen im Netz gegen die grüne Kanzlerkandidatin.
  • Habeck erklärt, welche Kosten auf die Verbraucher zukämen, wenn der Kampf gegen die Klimakrise so geführt wird, wie sich die Grünen das vorstellen.

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Herr Habeck, wer ist an Weihnachten Kanzlerin: Angela Merkel oder Annalena Baerbock?

Robert Habeck: Nicht mehr Angela Merkel. Bis Weihnachten sollte Deutschland die nächste Regierung im Amt haben. Die Chance, dass Annalena es wird, ist geringer geworden, aber sie ist noch da.

Vor viereinhalb Monaten galt Baerbock schon als ausgemachte Merkel-Nachfolgerin. Inzwischen liegen die Grünen nur noch auf Platz drei. Hat Frau Baerbock zu viele Fehler gemacht und sprechen wir heute deswegen mit Ihnen und nicht mit ihr?

Nein. Es sind Fehler gemacht worden, das hat Annalena Baerbock selbst mehrfach zugegeben. Und gleichzeitig ist Annalena Baerbock eine Frau, die mutig ist und die Konfrontationen nicht scheut. Doch wir beide teilen uns Wahlkampfveranstaltungen und Medienauftritte auf, also müssen sie nun mit mir vorlieb nehmen. (Iacht)

Laut einer Untersuchung der Organisation Avaaz ist Annalena Baerbock mit Abstand am häufigsten Opfer von Desinformationskampagnen und Fake News im Netz. Warum ist das so?

Über die Studie wird in Fachkreisen ja auch kritisch debattiert. Aber unabhängig davon gibt es im Netz natürlich eine Menge Hass. Ich glaube, es kommen drei Dinge zusammen. Ein Grund ist wahrscheinlich, dass Annalena Baerbock als 40-jährige Frau, die ihr politisches Angebot, anders als Frau Merkel, auch als feministisches verstanden wissen will, einige Menschen auf die Palme bringt. Das führt dazu, dass es sexistische, frauenfeindliche Attacken gibt.

Und der zweite Grund?

Das progressive politische Element der Grünen fordert einige Menschen heraus, also unsere Idee einer vielfältigen Gesellschaft, von Gleichstellung zwischen den Geschlechtern oder einer Einwanderungspolitik für Europa, die auf Humanität und Ordnung setzt statt auf Abschottung. Das löst natürlich im rechtsnationalen Bereich extreme Widerstände aus.

Und drittens?

Das ist nicht so ganz leicht nachzuweisen, aber wir wissen das aus Wahlkämpfen anderer Länder, dass auch ausländische, häufig autoritär regierte Staaten sich einmischen.

Welche genau?

Zumindest ist zu vermuten, dass russische Netzwerke zugange sind. Es gibt in bestimmten autoritären Staaten einfach kein Interesse daran, dass eine Partei wie die Grünen an die Regierung kommt, die robust genug ist zu sagen, was Phase ist. Die Kombination mit der Ablehnung einer jungen Frau führt dann zu dieser erschreckend hohen Zahl an Lügen und Fake News.

Haben Sie schon mal daran gedacht, wie es sein wird, wenn die Grünen nicht nur das Kanzleramt verpassen, sondern sich am Ende wieder auf der Oppositionsbank befinden?

Nur in den Hinterstübchen meines Hirns, in die ich niemanden reingucken lasse.

Machen Sie eine Ausnahme!

Naja, es wäre schon wirklich ein Drama, wenn wir nach der Wahl die GroKo mit oder ohne FDP, also die ganze alte Zeit auf einmal, in einer Suppe verrührt hätten. So holperig der Wahlkampf lief, es ändert nichts daran, dass sich das Land geändert hat und sich auch die Politik ändern sollte, damit das moderne Deutschland stattfindet.

Egal, mit wem Sie regieren, die Klimakrise ist das beherrschende Thema und die wenigsten Menschen haben etwas gegen Klimaschutz - wohl aber gegen Verzicht und Einschränkungen. Wie machen Sie ihnen Ihre Klimapolitik schmackhaft?

Erst einmal muss man sich klarmachen, dass vieles von dem, was wir diskutieren, zwar zu einer anderen Produktionsweise, anderen Energieformen oder auch einer anderen Wirtschaftsweise in der Landwirtschaft führen wird, es aber nicht bedeutet, dass Menschen unmittelbar jeden Tag, in jeder Stunde, in jeder Minute neue Entscheidungen treffen müssen. Wenn wir den Kohleausstieg vorziehen, dann ist es politische Aufgabe, für Versorgungssicherheit zu sorgen und darauf zu achten, dass die Beschäftigten Perspektiven haben. Aber als Bürgerin oder Bürger werden Sie nichts davon merken, wenn Sie Ihr Handy das nächste Mal aufladen.

Das klingt verdächtig konfliktfrei.

Die Infrastruktur dafür muss natürlich geschaffen werden, das heißt Netzausbau, Windkraftausbau. Das können unangenehme Themen werden, klar. Ich komme aus Schleswig-Holstein und weiß, wie das ist, wenn ein Land auf Windkraft setzt und Stromleitungen bauen muss. Das löst nicht nur Begeisterungsstürme aus. Aber es gibt Wege, das gemeinsam mit den Menschen umzusetzen. Wichtig ist, dass die politische Verantwortung ausgeübt und nicht delegiert wird auf das tägliche Konsum-, Einkaufs- und Reiseverhalten der Menschen.

Ich darf also weiterhin siebenmal im Jahr übers Wochenende nach London fliegen oder fünfmal die Woche Schnitzel essen?

Natürlich sind lauter Wochenendtrips mit dem Flieger angesichts der Erderhitzung sicher nicht das Beste – jedenfalls nicht, solange Flüge noch so viel CO2 emittieren. Aber es ist Ihre freie Entscheidung. Man darf sich auch ungesund ernähren und sich in Reisestress versetzen. Was wir aber nicht mehr zulassen sollten, ist, dass solches Verhalten auch noch steuerlich begünstigt wird. Deshalb wollen wir die Steuerbefreiung auf Kerosin abschaffen, also die künstliche Vergünstigung. Umgekehrt wollen wir die Bahninfrastruktur ausbauen – bessere Verbindungen, mehr Pünktlichkeit, zuverlässiger Service – dann würden sicher viel mehr Menschen auf die Bahn umsteigen.

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Also alles wie gehabt?

Nein. Schauen Sie auf die Landwirtschaft. Das Leben, das die meisten Schweine und Rinder haben, ist jetzt kein so großartiges. Im Gegenteil. In der industriellen Tierhaltung sind Tiere zu Rohstofflieferanten degradiert, weil die Bauern gezwungen sind, möglichst effizient zu produzieren. Deshalb: Es ist Aufgabe der Politik, dafür zu sorgen, dass die Tiere, die wir töten, um sie zu essen, bis zum Ende ihres Lebens tiergerecht gehalten werden und die Haltung Natur und Umwelt nicht zerstört. Das kann natürlich Auswirkungen auf Verbraucherpreise haben.

Dann geht es doch dem Einzelnen ans Portemonnaie?

Einmal grundsätzlich: Wenn wir nichts ändern, dann wird es teuer - aber so richtig! Für jeden einzelnen, wie auch für die Gesellschaft. Wir werden massive Klimafolgekosten haben, trockene Sommer werden zu Ernteausfällen führen – dann fragen Sie mal nach den Lebensmittelpreisen. Wenn wir das System umkrempeln wollen, müssen wir die Agrarmilliarden der EU anders einsetzen und die Tierhaltung umstellen. Letzteres kostet, ja. Weil die Bauern aber von den Preisen, die in der Supermarktkasse gezahlt werden, sowieso wenig abbekommen, werden Sie das bei den Verbraucherpreisen nur minimal spüren - eben Centbeträge.

Ist das ein Versprechen?

Das ist vor allem die ökonomische Analyse, gerade in der Landwirtschaft. Der Druck auf den landwirtschaftlichen Betrieben ist enorm. Wir haben ein System, in dem die Bäuerinnen und Bauern auch ökonomisch am Ende der Kette hängen. Sie müssen immer mehr, immer billiger produzieren. Aber die Gewinnmargen bleiben woanders hängen: bei Molkereien, bei Schlachtereien, bei Supermarktriesen. Die Aldi-Brüder gehörten zu den reichsten Menschen Deutschlands – nicht ohne Grund. Und wenn wir schon bei Preisen sind: Die Preise für Schweine sacken gerade so dramatisch in den Keller, dass sie Landwirte und ihre Familien ruinieren. Der ökonomische Druck auf die Bauern ist eine soziale Frage, über die kaum jemand spricht.

Aber die Bio-Wurst kostet doch jetzt schon mindestens das Doppelte...

Es geht ja nicht darum, dass alle jetzt nur noch Bio-Fleisch essen sollen. Wir reden darüber, dass auch Landwirte unterstützt werden müssen beim Umbau ihrer Ställe. Hin zu einer Haltung, bei der die Tiere mehr Platz haben. Eine Kommission der Bundesregierung hat vorgeschlagen, dass beispielsweise auf den Liter Milch zwei bis drei Cent mehr bezahlt werden. Die gehen direkt an die landwirtschaftlichen Betriebe. Wir reden also nicht über die Verdoppelung oder Verdreifachung der Lebensmittelpreise.

Aber Städtetrips per Flugzeug oder der Urlaub auf Malle bleiben künftig dann nur den betuchteren Leuten vorbehalten?

Ich gebe zu, ich bin langsam etwas genervt. Ihre Fragen gehen von der Annahme aus, dass alles gut werden könnte, wenn wir einfach nichts ändern. Das ist aber ausgeschlossen. Flüge werden steuerlich begünstigt, obwohl wir wissen, dass wir damit dem Klima schaden. Oder ein anderes Beispiel: Die Produktion von Plastik wird gefördert, indem das dafür eingesetzte Rohöl steuerbefreit ist. Das sind nichts anderes als Subventionen, und zwar umweltschädliche. Warum sollten wir Umweltschäden aber befördern? Dann sollten doch lieber die Produktionsweisen unterstützt werden, die umweltfreundlich sind.

Deutschlands Energiebedarf wird in den kommenden Jahren – auch durch den Ausstieg aus der Kohleverstromung – massiv steigen. Ist es da nicht blauäugig, nur auf Wind und Sonne zu setzen?

Nein, das ist die günstigste und verantwortungsvollste Energieproduktion. Wenn wir Kohlekraftwerke abschalten, müssen wir die gleiche Menge erstmal durch Erneuerbare ersetzen. Aber ja, wir werden dennoch mehr erneuerbare Energie brauchen, für Mobilität, fürs Heizen, für die Industrie. Wir werden also Energieimporte aus dem Ausland auf erneuerbarer Basis brauchen. Heute importieren wir ja auch Kohle, Öl und Gas aus aller Herren Länder.

Bei der Produktion von Atomstrom fällt wenig CO2 an. Ist es nicht an der Zeit, das grüne Credo, Atomkraft dürfe nicht sein, über den Haufen zu werfen?

Ich bezweifle, dass diejenigen, die neue Atomkraftwerke fordern, damit einverstanden wären, dass das Endlager für den Müll vor ihrer Haustür gebaut wird. Außerdem sind neue Atomkraftwerke teurer als erneuerbarer Strom, alte wie neue bergen ein Sicherheitsrisiko. Deshalb sollten wir am Atomausstieg nicht rütteln. Ich sehe auch nicht, dass die Energiekonzerne das wollen. Sie geben ja gerade ein Heidengeld für den Rückbau ihrer Atomkraftwerke aus.

An einem anderen Credo haben die Grünen längst gerüttelt: Sie haben Auslandseinsätzen der Bundeswehr zugestimmt, unter anderem dem in Afghanistan. War das ein Fehler?

Der Einsatz in Afghanistan ist eine militärische und moralische Niederlage. Aber es hätte auch zu einem guten Ende kommen können. Militärische Einsätze sind immer ein moralischer Spagat, sie aber von vornherein aus Prinzip abzulehnen, macht einen moralisch nicht unschuldiger. Es gibt Situationen, in denen man sich nicht weggucken kann, bei Genoziden etwa oder wenn Terrorismus sich ausbreitet und exportiert wird. Aber es ist klar, dass man, wenn man sich militärisch engagiert, eine übergeordnete politische Strategie braucht und wissen muss, wie man wieder rauskommt. Wir werden künftig Ziele sehr viel genauer definieren müssen. Pauschal für oder gegen Auslandseinsätze der Bundeswehr zu sein, blendet die Komplexität der Wirklichkeit aus.

Sie haben gefordert, aus der Afghanistan-Tragödie kein politisches Kapital zu schlagen – um dann der Bundesregierung vorzuwerfen, sie habe die Situation im Land wider besseres Wissen ignoriert, um das Thema aus dem Wahlkampf herauszuhalten. Ist das nicht scheinheilig?

Nein, zu fragen, wer die Verantwortung für das Desaster trägt, gehört zum normalen politischen Handwerk. Und das sind wir auch den Menschen schuldig, die sich auf Deutschland verlassen haben. Diese Aufarbeitung braucht es auch, um aus den Fehlern lernen zu können. Aber in der dramatischen Situation ging es uns nicht zuerst um Rücktritte Einzelner wenige Wochen vor Ende der Legislaturperiode, sondern darum, dass noch so viele Menschen wie möglich gerettet werden.

Apropos Fingerzeig – heben Sie die Hand, wenn demnächst die Ministerposten verteilt werden?

Erst einmal geht es darum, ein gutes Wahlergebnis einzufahren, damit wir dann die Chance haben, eine Regierung zu bilden. Das ist für mich ja der Sinn von Politik, Dinge umsetzen zu können und operative Verantwortung zu tragen.

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