• Seit Wladimir Putin in der Ukraine Krieg führt, haben fast 150.000 Menschen in Deutschland Schutz gesucht.
  • Nicht zum ersten Mal kommen innerhalb kurzer Zeit viele Flüchtlinge nach Deutschland - auch 2015 stiegen die Zahlen sprunghaft.
  • Die Hilfsbereitschaft jetzt scheint allerdings deutlich höher als damals. Experten haben unterschiedliche Erklärungen für die Reaktionen in der EU.
Eine Analyse
Dieser Text enthält eine Einordnung aktueller Ereignisse, in die neben Daten und Fakten auch die Einschätzungen der Autorin bzw. der zu Wort kommenden Experten einfließen. Hier finden Sie Informationen über die verschiedenen journalistischen Textarten.

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"Zirka 95.000 Menschen sind aus der Ukraine nach Deutschland geflohen und finden Platz. Seit Jahren schaffen wir es aber nicht, die Flüchtlingscamps auf Lesbos zu evakuieren um den nur paar tausend Menschen Wärme und Sicherheit zu schenken. Wie passt das zusammen?", fragte unlängst die Sozialarbeiterin und Grünen-Politikerin Cansin Köktürk auf Twitter.

Und Journalist Krsto Lazarević twitterte Anfang März: "Wenn du glaubst, dass Menschen die aus Syrien vor Putins Bomben flüchten keine echten Flüchtlinge sind, aber jene aus der Ukraine schon, dann bist du einfach ein jämmerlicher Rassist."

Hilfsbereitschaft der Bevölkerung jetzt größer als 2015

Gibt es Flüchtlinge erster und zweiter Klasse? Seit Beginn von Wladimir Putins Angriffskrieg auf die Ukraine am 24. Februar haben bislang laut dem UN-Flüchtlingshochkommissariat UNHCR mehr als 2,8 Millionen Menschen ihr Land verlassen. Die meisten flüchten nach Polen. In Deutschland wurden bis zum 14. März nach Angaben des Bundesinnenministeriums rund 147.000 Einreisen von Kriegsflüchtlingen aus der Ukraine dokumentiert.

Wie unter anderem der SWR berichtet, fällt die Hilfsbereitschaft aktuell deutlich größer aus als 2015. Damals waren innerhalb kurzer Zeit über eine Millionen Menschen nach Deutschland gekommen, einer der Hauptgründe war der syrische Bürgerkrieg. Diesmal, so ein Mannheimer Bahnhofshelfer im SWR-Bericht, sei die Hilfsbereitschaft drei- oder viermal so groß: Es gebe stapelweise Sachspenden, Geldspenden und Wohnungsangebote.

Bei "Hart aber Fair" hatten Journalist Gabor Steingart und Ex-Nato-General Hans-Lothar Domröse dafür eine Erklärung. "Es ist unser Kulturkreis, es sind Christen", sagte Steingart. Er könne sich vorstellen, dass es "diesmal funktioniert" - aufgrund der kulturellen Nähe.

Domröse argumentierte, damals seien "wehrfähige, starke Männer (gekommen), die eigentlich ihr Land verteidigen sollten". Nun verließen hauptsächlich "Frauen, Mütter und Kinder" ihr Land. (Männer zwischen 18 und 60 Jahren dürfen die Ukraine auf Anweisung von Präsident Wolodymyr Selenskyj derzeit nicht verlassen, Anm. d. Red.) Das sei eine ganz andere Situation.

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Ist dem so? Florian Weber ist Europaforscher mit einem Schwerpunkt auf Grenzräume. Er sagt: "Es gibt vom Status her keine Unterschiede. Die Genfer Flüchtlingskonvention gewährt Asyl für Verfolgte aufgrund ihrer Nationalität, Religion, politischer Überzeugung oder wegen Krieg."

Auch 2015 seien viele Menschen brutal aus Syrien vertrieben worden, weil Städte vollständig zerstört wurden. Sowohl jetzt als auch damals seien Menschen aus "relativ vergleichbaren, gut nachvollziehbaren Gründen" in die Europäische Union gekommen.

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Experte Florian Weber: "Es handelt sich um Krieg an der Haustür"

Es sei richtig, dass sich die Gruppe der Geflüchteten nun anders zusammensetze als damals. Aber: "Alle Geflüchteten sind gleich viel wert", betont Weber. Der Wissenschaftler erinnert: "2015 überwog am Anfang ebenfalls die positive Willkommensstimmung, erst später kam die Debatte über unterschiedliche kulturelle Werte, und es gab verschiedene Zuschreibungen wie etwa Wirtschaftsflüchtlinge".

Dass die Hilfsbereitschaft unterschiedlich groß ist, hat auch Weber beobachtet. Er erklärt: "Jetzt handelt es sich um einen Krieg direkt an der Haustür zur Europäischen Union, wir sind alle von Putins Angriffskrieg in Europa bestürzt". Der Krieg werde als Angriff auf die europäischen Werte gerahmt, dem mit europäischer Solidarität begegnet werden müsse.

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Kulturgeograph Peter Dörrenbächer wird noch deutlicher: "Es ist Fakt: Ähnliche Wertsysteme haben einen Einfluss auf die Anteilnahme und Solidarität. Die geographische und kulturelle Nähe ist diesmal einfach größer." Die Kontakte und Kontaktmöglichkeiten, die es bislang zwischen Deutschen und Ukrainern gegeben habe, seien größer gewesen als zu Menschen aus den Ländern im Nahen Osten.

"Jetzt kochen auch die historischen Ost-West-Gegensätze noch einmal hoch. Es besteht die Angst, unser Nachbarland Polen könnte auch betroffen sein", sagt Dörrenbächer. Ebenso spiele ein Misstrauen gegenüber Russland eine Rolle. "Wir haben erlebt, wie die diplomatischen Gespräche von Putin zuletzt inszeniert wurden, eine Lösung sollte es nie geben. Da fühlt man sich jetzt möglicherweise vorgeführt", argumentiert der Experte.

Europa steht an der Schwelle

Er sieht Europa nun an einer Schwelle. "Die aktuelle Situation kann eine neue Perspektive für den europäischen Integrationsprozess mit sich bringen", hofft Dörrenbächer. Die EU-Staaten seien sich in den letzten Jahren nie so einig gewesen, wie es aktuell der Fall ist.

"Wir haben eine Kaskade von Krisen erlebt - Finanzkrise, Terroranschläge, Flüchtlingskrise, Coronapandemie", erinnert der Experte. Der Ukraine-Krieg bringe nun eine ungesehene Solidarität quer durch die Staaten der EU mit sich, selbst in den Ländern, die 2015 ausscherten. Damals hatte sich besonders Ungarn unter Viktor Orbán der europäischen Flüchtlingspolitik versperrt. "Jetzt sieht man, wie wichtig der Wert, als geeintes Europa zusammenzustehen, ist. Das bietet Chancen", sagt Dörrenbächer.

Experte Weber warnt allerdings auch vor einem zu verfrühten Vergleich: "Die Spendenbereitschaft war 2015 auch enorm hoch, sie kippte aber irgendwann und ein Gefühl der Überforderung trat ein". So titelte der "Spiegel" im Dezember 2015 beispielsweise noch: "Deutsche spendeten 2015 so viel wie nie zuvor".

Weber sagt dazu: "Jetzt könnten, so Aussagen von Migrationsforschern, bis zu 10 Millionen Menschen kommen. Hoffentlich reicht die Solidarität auch dann noch." Man sollte aus 2015 jedoch gelernt haben, dass Solidarität keine Grenzen kenne. Als Lerneffekt habe sich bereits abgezeichnet, gemeinsam europäisch zu handeln.

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Gefahr der Erschöpfung

"Man hat sich diesmal auf europäischer Ebene frühzeitig abgestimmt. Es macht nicht jeder, was er will und Themen wie Aufenthaltsrecht, Arbeitserlaubnis und Sozialleistungen sind einheitlich geregelt", so Weber.

Trotzdem bestehe die Gefahr von Erschöpfung. "Die Politik muss sich durchgehend für ausreichende Mittel und gute Koordinierung einsetzen und die vielen Ehrenamtlichen nicht aus dem Blick verlieren", appelliert Weber. Auch dürfe man andere Krisenherde nicht aus dem Blick verlieren: "Afghanistan, Irak, Syrien liegen weniger vor der Haustür, aber Solidarität braucht es auch dort".

Über die Experten:
Jun.-Prof. Dr. Florian Weber ist Juniorprofessor für Europastudien an der Universität des Saarlandes mit den Schwerpunkten Westeuropa und Grenzräume. Weber studierte Geographie, Soziologie, Publizistik und Betriebswirtschaftslehre.
Prof. Dr. Peter Dörrenbächer lehrt in der Fachrichtung Gesellschaftswissenschaftliche Europaforschung an der Universität des Saarlandes. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen Sozial- und Wirtschaftsgeographie sowie Grenzraumforschung. Dörrenbächer studierte Geographie und Soziologie.

Verwendete Quellen:

  • Twitter: Profil von Cansin Köktürk. Tweet vom 11.03.2022
  • Twitter: Profil von . Tweet vom 01.03.2022
  • "WDR": Hart aber Fair mit Frank Plasberg von 28.02.2022
  • "Mediendienst Integration": Flüchtlinge aus der Ukraine. Stand 14.03.2022
  • SWR: Hilfsbereitschaft für Geflüchtete: Warum sie aktuell größer als 2015 ist. 09.03.2022
  • "Spiegel": Deutsche spendeten 2015 so viel wie nie zuvor. 30.12.2015
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