Vor vier Jahren trat der erste Corona-Lockdown in Kraft. Die Pandemie hat in der Gesellschaft Spuren und Wunden hinterlassen. Muss die Politik sie mit einer Enquête-Kommission im Bundestag aufarbeiten?

Mehr aktuelle News

Am 22. März 2020 verkündete die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel Kontaktverbote, die das Land noch nicht gesehen hatte. Treffen in der Öffentlichkeit waren vorerst nur noch mit einer anderen Person erlaubt. Gaststätten und Friseursalons wurden geschlossen. Präsenzunterricht in Schulen fand zu diesem Zeitpunkt bereits seit einer Woche nicht mehr statt. Das Coronavirus war in Deutschland angekommen, der erste "Lockdown" hatte begonnen.

Heute, vier Jahre später, ist die Pandemie im Großen und Ganzen vorbei. Doch die Diskussion über Fehler und Versäumnisse, über Lehren aus dieser Zeit ist es noch nicht. Denn die Pandemie hat Spuren und Wunden in der Gesellschaft hinterlassen. Bei denjenigen, die Angehörige an das Virus verloren haben. Bei Menschen, die noch heute unter den Folgen einer Infektion leiden. Bei Kindern und Jugendlichen, die in der Pandemie kaum Kontakt zu Gleichaltrigen hatten.

Ungeimpfter: "Wurden wie Aussätzige behandelt"

Und auch bei Menschen wie Jens Knipphals. Er gehört zu denjenigen, die sich in der Pandemie Stück für Stück von den etablierten Parteien abgewandt haben. Er hat sich bei unserer Redaktion gemeldet, um gehört zu werden. Auch er sei am Anfang sehr verunsichert gewesen, sagt der Zahnarzt im Ruhestand. Doch dann kamen ihm die staatlichen Maßnahmen panisch vor. Eine Impfung gegen das Virus lehnte er ab – weil der Ansatz der mRNA-Impfstoffe aus seiner Sicht unsinnig und schlecht erforscht ist. "Wir wurden wie Aussätzige behandelt und massiv diskreditiert", sagt er.

Der Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer drohte Ungeimpften damals mit Beugehaft, der damalige saarländische Ministerpräsident Tobias Hans mit dem Ausschluss aus dem gesellschaftlichen Leben. Auf Montagsspaziergängen gegen die Corona-Maßnahmen fühlte sich Knipphals von der Polizei stark bedrängt, seinen sterbenskranken Schwiegervater konnte er nicht im Krankenhaus besuchen. "Das sind Sachen, die ich nicht vergessen kann", sagt er. Er findet: Die Politik müsse jetzt Fehler zugeben, sie aufarbeiten und sich "glaubwürdig entschuldigen".

Selbstkritik aus der Politik

Es gab damals kein Drehbuch für eine Pandemie, die Verunsicherung war in der Bevölkerung und auch in der Politik groß. Trotzdem haben inzwischen viele Politikerinnen und Politiker klargemacht, dass sie mit heutigem Wissen zum Teil anders entschieden hätten.

"Wir haben das Impfen als eine Lösung für den Ausstieg aus der Pandemie beworben und eine Erwartung geschürt, die wir am Ende nicht erfüllen konnten", sagte vor Kurzem der damalige Kanzleramtsminister Helge Braun (CDU) dem "Spiegel". Der heutige Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) hält die damaligen Schutzmaßnahmen für Kinder und Jugendliche inzwischen für zu streng.

Ein Ausschuss aus 19 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern hatte sich schon in der Endphase der Pandemie die Aufarbeitung der staatlichen Maßnahmen vorgenommen. Doch im Juli 2022 legte das Gremium einen 160-seitigen Bericht mit Leerstellen vor. Es gebe zu wenig brauchbare Daten, sagten die Mitglieder – und verzichteten weitgehend auf eine Bewertung der Schutzmaßnahmen.

FDP fordert Enquête-Kommission des Bundestags

Die AfD fordert seit Längerem einen Corona-Untersuchungsausschuss im Bundestag. Damit steht die Partei weitgehend allein da. Größere Unterstützung könnte es aber für eine Enquête-Kommission geben. Im Gegensatz zu Untersuchungsausschüssen gehören diesen Kommissionen auch Mitglieder aus der Wissenschaft an.

"Wir müssen aus den Geschehnissen, Erfahrungen und Entscheidungen lernen, um in der nächsten Krisensituation besser vorbereitet zu sein."

Christine Aschenberg-Dugnus, FDP-Abgeordnete

Eine Enquête-Kommission zur Pandemie sei "notwendig und folgerichtig", teilt die stellvertretende FDP-Fraktionsvorsitzende Christine Aschenberg-Dugnus auf Anfrage unserer Redaktion mit. "Denn wir müssen aus den Geschehnissen, Erfahrungen und Entscheidungen lernen, um in der nächsten Krisensituation besser vorbereitet zu sein." Dabei gehe es nicht um Schuldzuweisungen, "sondern um Analyse und Aufarbeitung."

Aus Sicht von Aschenberg-Dugnus müsste eine Kommission unter anderem bewerten, ob Besuchsverbote in Heimen, die Schließung von Kitas und Schulen oder die weitgehende Stilllegung des kulturellen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Lebens wirksam und verhältnismäßig waren. "Auch das Management der Beschaffung und Lagerung von Masken, Tests und Schutzkleidung muss auf die rechtlich einwandfreie Auftragsvergabe hin überprüft werden."

"Wir brauchen eine Fehlerkultur in der Politik – und wir haben Fehler gemacht."

Sepp Müller, CDU-Politiker

Auch in der CDU/CSU-Fraktion kann man sich einen solchen Schritt vorstellen. "Wir brauchen eine Fehlerkultur in der Politik – und wir haben Fehler gemacht", sagt der stellvertretende Fraktionsvorsitzende Sepp Müller im Gespräch mit unserer Redaktion. "Vor allem im Umgang mit Kindern und Jugendlichen hätte man schon damals aufgrund der Datenlage anders vorgehen können, im Nachgang auch müssen."

Aus Müllers Sicht wäre ein Gremium aus dem Parlament mit wissenschaftlicher Unterstützung der richtige Ort für die Aufarbeitung: "Ob das eine Enquête-Kommission oder ein Unterausschuss des Gesundheitsausschusses ist, wäre aus meiner Sicht zweitrangig." In jedem Fall sei das eine Aufgabe für die nächste Legislaturperiode. "In der laufenden Periode ist das zeitlich nicht mehr machbar."

Müller betont: Insgesamt sei Deutschland gut durch die Pandemie gekommen. Er hätte sich sogar gewünscht, dass man an manchem länger festgehalten hätte. "Ich halte es für einen groben Fehler, dass die Corona-Warn-App abgeschaltet wurde", sagt er. Sie hatte zwischenzeitig bis zu 35 Millionen aktive Nutzer. "Die App hätte man zum Beispiel für einen digitalen Impfpass nutzen können. Wenn es irgendwann zu einer neuen Pandemie kommt, müsste man das alles erneut auf die Beine stellen."

Weitere News gibt's in unserem WhatsApp-Kanal. Klicken Sie auf "Abonnieren", um keine Updates zu verpassen.

Janosch Dahmen warnt vor "Pseudo-Aufarbeitung"

SPD und Grüne haben bisher zurückhaltend auf die Einrichtung einer Enquête-Kommission reagiert. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) hat gerade ein Expertengremium im Kanzleramt eingesetzt: 23 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sollen die Frage beantworten, wie der Staat zukünftigen Gesundheitskrisen begegnen kann.

"Auch in der letzten Phase der Pandemie hätten wir mehr Menschenleben retten können, wenn wir vulnerable Gruppen besser geschützt hätten."

Janosch Dahmen, Grünen-Abgeordneter

Der gesundheitspolitische Sprecher der Grünen, Janosch Dahmen, ist skeptisch, ob eine Enquête-Kommission den richtigen Rahmen für die Aufarbeitung bietet. "Aus einem Jahrhundert-Ereignis muss man Lehren ziehen, vor allem nach vorne gerichtet. Niemand würde bestreiten, dass man mit dem Wissen von heute auch Dinge anders machen würde", sagt er. Aus seiner Sicht darf dabei aber nicht unter den Tisch fallen: "Auch in der letzten Phase der Pandemie hätten wir mehr Menschenleben retten können, wenn wir vulnerable Gruppen besser geschützt hätten."

Dahmen ist der Meinung: Die Aufarbeitung müsse in einem "wissenschaftlichen, evidenzbasierten Raum" stattfinden. Diese dürfe nicht parteipolitisch und populistisch aufgeheizt sein. "Wenn sich alle Parteien nur selbst vergewissern, dass ihre eigene Position richtig war, wäre das eine Pseudo-Aufarbeitung."

Verwendete Quellen

JTI zertifiziert JTI zertifiziert

"So arbeitet die Redaktion" informiert Sie, wann und worüber wir berichten, wie wir mit Fehlern umgehen und woher unsere Inhalte stammen. Bei der Berichterstattung halten wir uns an die Richtlinien der Journalism Trust Initiative.