Sechs Monate ist es her, dass Sahra Wagenknecht den Startschuss für die linke Sammelbewegung "Aufstehen" gab und damit großes Medieninteresse auslöste. Mittlerweile ist es ruhiger um das Projekt geworden, erste Kritiker erklären es bereits für tot. Stimmt das?

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Rund 170.000 Unterstützer, 64.100 Likes bei Facebook, 18.100 Follower bei Twitter und über 200 Ortsgruppen in ganz Deutschland (Stand 03. März): So lautet die zahlenmäßige Bilanz von "Aufstehen" nach einem halben Jahr. Beschreiben diese Zahlen den Erfolg der linken Sammlungsbewegung? Oder sind sie Ausdruck eines ins Stocken geratenen Projekts?

Während Gregor Gysi die Bewegung bereits für politisch tot erklärt, meint das Team um "Aufstehen" selbst, man habe es geschafft "soziale Themen wieder breitflächig bei den Menschen ins Gespräch zu bringen". Mit-Initiator Oskar Lafontaine sieht zumindest noch "Luft nach oben."

Wie steht es nun aktuell um die linke Sammlungsbewegung? Ist es gelungen, mit dem Schwung der Anfangseuphorie nicht nur aufzustehen, sondern auch voranzugehen?

Furioser Start mit hunderttausenden Unterstützern

Rückblick in den Herbst letzten Jahres: Am 4. September 2018 gab Sahra Wagenknecht den offiziellen Startschuss für die linke Sammlungsbewegung. Ziele: Man wolle neue Mehrheiten in Deutschland schaffen, es dürfe nicht mehr an den Interessen der Mehrheit vorbei regiert werden. Es gehe um einen Erneuerungsprozess - Stichworte lauteten "sichere Arbeitsplätze", "höhere Löhne", "bezahlbare Mieten" und "echte Friedensdiplomatie."

Damals: Riesiges Medieninteresse und schnell über 100.000 Unterstützer, darunter Politiker wie Sevim Dagdelen (Linke), Marco Bülow (SPD), Antje Vollmer (Grüne), Simone Lange (SPD), aber auch Künstler, Journalisten, Gewerkschaftler.

Erledigt Bewegung sich von selbst?

Nun, ein halbes Jahr später, fällt Linken-Politikers Gregor Gysi im Interview mit der "Rheinischen Post" ein hartes Urteil: "Aufstehen" erledige sich Schritt für Schritt selbst. "Man kann eine Bewegung nicht von oben beschließen. Das entsteht entweder von unten oder gar nicht", so Gysi.

Eine Bewegung funktioniere außerdem nur für ein Thema, wie etwa gegen das Polizeigesetz in Bayern. "Für ein Angebot von A bis Z gibt es Parteien", unterstrich er. "En Marche" von Macron in Frankreich sei eine Ausnahme gewesen. "Deutschland ist nicht Frankreich", erinnerte der 71-Jährige.

Im "Deutschlandfunk" urteilt Wolf-Sören Treusch: "Die Anfangseuphorie droht bei vielen Mitgliedern zu verfliegen. " Das Projekt komme nicht recht vom Fleck.

Mitgliederzahlen steigen nur noch langsam

Auch Parteiforscher Dieter Rucht ist skeptisch. In einem Arbeitspapier für das Institut für Protest- und Bewegungsforschung prognostizierte er schon vor einiger Zeit, "Aufstehen" bekäme es schnell mit den "Mühen der Ebenen" zu tun. Mittelfristig gerate die Bewegung ins Stocken.

Und tatsächlich, der Motor stottert gewaltig: Schaffte "Aufstehen" es noch, seine Basis im Zeitraum von September bis Januar von knapp 100.000 auf 165.000 um mehr als 50 Prozent zu steigern, ist der Zuwachs mittlerweile bescheiden. "Seitdem sind circa 2.000 neue Registrierungen über die Homepage eingegangen", informiert "Aufstehen" auf Anfrage unserer Redaktion. Das ist zwar kein Stillstand, aber: "Der zunächst rasante Zulauf scheint sich zu verlangsamen", schreibt auch Rucht.

Nicht nur an Zahlen messen

Die Vertreter der Sammlungsbewegung sehen das naturgemäß vollkommen anders. "Wir sind eine lebendige Basisbewegung", heißt es in einem offenen Brief an Gysi. Man gewinne jeden Tag neue Mitglieder und Sympathisanten, gerade in den letzten Monaten habe "Aufstehen" seine Akzeptanz in der Bevölkerung gesteigert.

"Aufstehen" will sich nicht nur an Zahlen messen lassen. "Fast jedes Wochenende gibt es Aktionen von Aufstehen in ganz Deutschland und jede Woche treffen sich unzählige Bürgerinnen und Bürger, um weitere Aktionen und Veranstaltungen zu organisieren" wehren sich die Unterstützer.

Besonders stark in fünf Bundesländern

Ein Blick in den Veranstaltungskalender zeigt: Besonders in den Bundesländern Saarland, Hamburg, Berlin, Bayern und NRW hat "Aufstehen" eine Vielzahl an Aktionen und Ortsgruppentreffen zu verbuchen.

Laut Website finden in NRW beispielsweise in Aachen, Essen, Duisburg oder Dortmund regelmäßige Unterstützertreffen statt, für dutzende weitere Städte heißt es "nächstes Treffen folgt". Veranstaltungen mit Abgeordneten wie Sevim Dagdelen oder Aktionsevents zur Frieden- und Sicherheitspolitik sind ebenso im Veranstaltungskalender vermerkt.

In Bayern haben sich in Regensburg und Landshut Ortsgruppen formiert, in Saarbrücken wird zur Demo "Gemeinsam für ein friedliches und gerechtes Land" aufgerufen und in Berlin werden neben zahlreichen Stammtischen auch englischsprachige Treffen angeboten sowie die "Aktion #BunteWesten" angekündigt.

Digitale Unterstützung auf Straße nicht sichtbar

Zentraler Dreh- und Angelpunkt bleibt die Website - nicht die Straße: Dass Follower nicht gleich Demonstranten sind, wurde auf den Veranstaltungen immer wieder deutlich.

Zwar kamen zu einer der zentralen Kundgebungen am 9. November einige Hundert Menschen zum Brandenburger Tor, vergleichbar mit der Dynamik der Gelbwesten in Frankreich ist das aber bei weitem nicht. Weitere Veranstaltungen waren nicht besser besucht.

Gründung von oben?

Woran liegt’s? Immer wieder kommt die Kritik an einer Gründung von oben sowie einem zu starken Zuschnitt auf Wagenknecht. Die meint: Angesichts der "überwältigenden" Resonanz könne man das nicht behaupten, "eine Bewegung, die mit 100.000 Menschen startet, die ist nicht von oben", sagte sie auf der Kundgebung in Berlin.

Rucht hält die "Beanspruchung des Bewegungsbegriffs" für sachlich kaum gerechtfertigt. Die Bewegungen um Bernie Sanders (USA) oder Jeremy Corbyn (Großbritannien) sowie die Gelbwesten in Frankreich - sie wirken gewiss als inspirierende Vorbilder. Mithalten kann "Aufstehen" nicht.

Bisher kein Markenkern

Ein Blick auf die bisherigen Beiträge zeigt "Aufstehen" als wenig innovatives Projekt. Neben einer Twitter-Kampagne mit Allgemeinplätzen wie "#Würde ist, wenn Tiere nicht mehr leiden" oder "#Würde ist ein menschenwürdiges Leben für alle", lassen auch die Positionen auf der Website keinen klaren Markenkern erkennen.

"Aufstehen" lässt verlauten: "Wir zeigen über unsere Aktionen, dass wir nicht bereit sind, weiterhin die soziale Ungerechtigkeit, die in Deutschland herrscht, zu akzeptieren und üben Druck auf die Parteien aus: für bezahlbaren Wohnraum, bessere Pflege und Gesundheit, würdige Renten, die Überwindung von Harz IV, gerechte Steuern, Frieden und Abrüstung, Umwelt und Klimaschutz und eine bessere Bildungs- und Familienpolitik."

Sammelticket ohne Reiseziel?

Das linkspolitische Magazin "Prager Frühling" schreibt: "Aufstehen blieb im Großen und Ganzen bei einer simplifizierten Programmatik der Linken." Ausnahme seien nur die Flüchtlingspolitik sowie die Haltung zur EU. Das Projekt ziele darauf ab, Unzufriedenheit in eine Rebellion gegen "die da oben" umzumünzen, ohne eine belastbare politische Programmatik zu entwickeln.

Rainer Balcerowiak urteilt im "Cicero": "Konfliktträchtige Festlegungen, beispielsweise zur Migrationspolitik, wurden sorgsam vermieden."

Rucht spricht von einem "gekauften Sammelticket" ohne Reiseziel und einem "unverbindlichen Blankoscheck".

"Es hakt noch an den Strukturen"

Das Team um "Aufstehen" sieht selbst Probleme: "Es hakt noch an den Strukturen." Man habe noch kein angestelltes Personal, da die Bewegung nicht auf Steuergelder, Spenden oder Mitgliedsbeiträge zurückgreifen könne. "Die Kommunikation zwischen den Unterstützern muss besser werden, denn bei "Aufstehen" finden sich Leute zusammen, die sich noch gar nicht kennen", reflektiert man.

Man will sich deshalb mehr Zeit geben: "Strukturen in den Ländern, Städten und Gemeinden können nicht von heute auf morgen aufgebaut werden", teilt das Presseteam mit. "Es liegt noch viel Arbeit vor den ehrenamtlichen Unterstützern, insbesondere was die größeren Flächenstaaten angeht", heißt es weiter.

Als nächster Schritt werde ein sozial-ökologisches Regierungsprogramm innerhalb der Bewegung breit diskutiert. "Im Kreis der Initiatoren wird bereits eifrig an einem Entwurf gearbeitet", so die Pressestelle.

Ungenutztes Potenzial?

Wesentlich tiefgreifendere Probleme, die einem dauerhaften Erfolg im Wege stehen, findet Experte Rucht: Fehlender Rückhalt in der eigenen Partei, Distanz bei SPD und Grünen, sowie eine gewisse Reserve gegenüber dem Duo Wagenknecht und Lafontaine.

"Aufstehen" aber sieht Potenzial: Knapp 60 Prozent der Unterstützer hätten sich bei der Anmeldung keiner Partei zugeordnet. "Das heißt, dass es Aufstehen offenbar schafft, einen großen Teil der Leute anzusprechen, die (noch) nicht politisch aktiv waren und sich nun engagieren", schlussfolgert man.

Totgesagte leben länger

Optimistisch kündigt man im Brief an Gysi an: "Sie können sicher sein, dass Sie in der nächsten Zeit noch mehr von uns hören werden, weil wir nicht einfach aufgeben und uns den Gegebenheiten stellen, sondern aktiv bleiben." Es sei ein Fehler gewesen, dass Macron die Gelbwesten voreilig für tot erklärt habe.

"Wir werden solange für unsere Anliegen weiterkämpfen, bis sich die Verhältnisse in Deutschland zum Besseren wenden" gibt man sich kämpferisch. Die Spekulationen darüber, dass Wagenknecht "Aufstehen" als Vorstufe zu einer neuen Partei plane, könnten noch für Überraschungen sorgen.

Verwendete Quellen:

  • Website von Aufstehen
  • Twitter-Account von Aufstehen
  • Rheinischen Post: "Gregor Gysi im Interview: 'Die Gesellschaft vereinsamt'"
  • Analyse des Parteiforschers Dieter Rucht: "Sitzenbleiben, #aufstehen oder aufstehen? Über den Versuch einer linken Sammlungsbewegung"
  • Deutschlandfunk: "Linke Sammlungsbewegung „Aufstehen“ kommt nicht vom Fleck"
  • Magazin "Prager Frühling": "Mutig und radikal die Zeit verändern - Für eine postpopulistische Linke"
  • Bayrischer Rundfunk: "Wie steht es um die "Aufstehen"-Bewegung von Sahra Wagenknecht?"
  • Cicero: "Sahra Wagenknecht und die Bewegung "Aufstehen"-Schon wieder am Boden?"
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