• Bei den Grünen ist eine Debatte über Flucht und Integration entbrannt.
  • Ein Landrat denkt über das Bauen von Zäunen nach. Mehrere Mitglieder fordern eine "neue Migrationspolitik".
  • Auch in der Partei der Willkommenskultur heißt es inzwischen: Ja, es gibt Integrationsprobleme.

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Jens Marco Scherf ist seit 2014 Landrat des Kreises Miltenberg in Bayern und seit 1994 Mitglied der Grünen. Was er aber in der vergangenen Woche in der Talkshow von Markus Lanz zu sagen hatte, klang für einen Grünen-Politiker reichlich ungewohnt.

Scherf sprach von großen Integrationsproblemen vor allem mit Zuwandererfamilien in Schulen und Kitas: Mütter würden sich nicht zu Elternabenden trauen, Lehrerinnen würden nicht mit Respekt behandelt. Der Landrat forderte eine stärkere Kontrolle der Zuwanderung – notfalls sogar den Bau von Zäunen an den Grenzen: "Wenn es das wirkungsvolle Mittel wäre, habe ich damit am Ende auch keine Probleme."

"Vert Realos" fordern Ende der "Blauäugigkeit"

Manche in der Partei tun den Miltenberger Landrat als Einzelstimme ab. Das wäre allerdings zu einfach: Ein Kreis von bürgerlichen Grünen – die "Vert Realos" – fordert in einem Positionspapier ebenfalls eine neue Migrationspolitik: "Sie soll durch Menschlichkeit und Empathie geprägt sein, aber ohne Blauäugigkeit und das Verschweigen von Problemen", heißt es in dem Memorandum. Zuwanderung müsse in Zukunft stärker gesteuert werden. Neben Scherf gehören zu den Unterzeichnern die frühere Europa-Parlamentarierin Rebecca Harms und der parteiintern umstrittene Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer.

Für die Grünen ist das Thema heikel. Wie keine andere Partei haben sie sich einen humanen Umgang mit Geflüchteten und eine Willkommenskultur auf die Fahnen geschrieben. Andererseits tragen ihre Mitglieder auf Landes- und Kommunalebene inzwischen vielerorts Verantwortung – und wissen daher, vor welchen Herausforderungen Behörden und Ehrenamtliche in der Praxis stehen.

Julian Pahlke: "Sollten über Lösungen diskutieren"

Lamya Kaddor ist innenpolitische Sprecherin der Grünen-Bundestagsfraktion. Sie erklärt auf Anfrage unserer Redaktion, Scherfs Äußerungen seien "absolut nicht tragbar" und passten nicht zu den Grundwerten der Partei. Allerdings sagt sie auch: "Ja, wir haben Probleme mit der Integration, aber das liegt daran, dass die Kommunen am Limit sind. Es fehlt an Schulen und Kitaplätzen und nach Corona muss alles wieder in den normalen Betrieb zurückfinden."

Ihr Kollege, der Bundestagsabgeordnete und frühere Seenotretter Julian Pahlke, sieht es ähnlich: "Die Situation im Land ist sehr unterschiedlich", sagt er. In seiner Region im ostfriesischen Leer wird gerade eine Erstaufnahmeeinrichtung abgebaut, da aktuell kein Bedarf besteht. "In anderen Kreisen ist die Situation angespannter. Wir sollten dann über Lösungen diskutieren – und nicht nur über das, was angeblich nicht funktioniert."

Einem Teil von Scherfs Kritik können sich viele Grüne offenkundig anschließen: Länder und Kommunen sind in Deutschland maßgeblich für die Unterbringung und Betreuung von Geflüchteten zuständig, fühlen sich vielerorts aber überlastet. Mehr als eine Million Menschen aus der Ukraine hat Deutschland seit Beginn der russischen Invasion vor einem Jahr aufgenommen. Hinzu kamen im vergangenen Jahr laut Bundesamt für Migration und Flüchtlinge 244.132 Asylanträge von Menschen aus anderen Ländern, unter anderem Syrien und Afghanistan.

Enttäuschung über Ergebnisse des Flüchtlingsgipfels

In der vergangenen Woche empfing Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) Länder und Kommunen zu einem Flüchtlingsgipfel, stellte dort aber keine zusätzlichen Finanzmittel in Aussicht. Nicht nur CDU-Politiker äußerten sich danach enttäuscht. "Wir brauchen dringend mehr dauerhafte Unterkünfte in den Kommunen und entsprechende Unterstützung vom Bund", sagte die schleswig-holsteinische Sozialministerin Aminata Touré (Grüne).

Der Grünen-Vorsitzende Omid Nouripour wurde bei einer Pressekonferenz am Montag besonders deutlich: Der Flüchtlingsgipfel habe "nichts gebracht", sagte er. Der Glaubenssatz der Grünen bleibt laut Nouripour das Nebeneinander von "Humanität und Ordnung". Das Gebot der Stunde sei, dass die Kommunen "zurande kommen".

Der Bund hat in diesem Jahr 2,75 Milliarden Euro für die Unterstützung von Ländern und Kommunen vorgesehen. Daran soll sich – vorerst – nichts ändern. Erst Anfang April könnte Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) das Thema mit den Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten noch einmal besprechen und dann vielleicht weitere Zahlungen zusagen. Die lauten Rufe auch von Grünen-Politikerinnen und -Politikern sind daher auch als Teil des Ringens um zusätzliche finanzielle Mittel zu verstehen.

Wie viel Migration lässt die Regierung zu?

Es geht in der aktuellen Integrationsdebatte aber nicht nur um Geld. Es geht auch um eine grundsätzlichere Frage: Wie viel Migration will und kann Deutschland zulassen? Mit seinen Gedankenspielen über das Bauen von Zäunen mag Grünen-Landrat Scherf innerhalb seiner Partei ziemlich alleine dastehen. Doch die Ampel-Koalition will durchaus eine stärkere Verteilung der Ukraine-Geflüchteten innerhalb der Europäischen Union erreichen. Auch Rückführungen von straffälligen Asylbewerbern sollen in Zukunft häufiger und schneller gelingen.

Das hat Innenministerin Nancy Faeser (SPD) angekündigt und sich den FDP-Politiker Joachim Stamp als Sonderbevollmächtigten für Migrationsabkommen an ihre Seite geholt. Er will prüfen, ob Asylverfahren für auf dem Mittelmeer gerettete Menschen künftig in Nordafrika durchgeführt werden können. In der Vergangenheit waren solche Abkommen allerdings nie zustande gekommen.

Das alles sind Töne und Ideen, die nicht unbedingt zur Programmatik der Grünen passen. Allerdings hat die Partei diese Schritte bei den Koalitionsverhandlungen akzeptiert. Im Gegenzug will die Regierungskoalition auch die Seenotrettung stärken und Gewalt an den Außengrenzen der EU bekämpfen.

Innenpolitikerin Lamya Kaddor hat auch hier eine differenzierte Sichtweise: Eine Begrenzung der illegalen Migration und eine schnellere Rückführung von Menschen, die schwere Straftaten begangen haben, trage die Partei durchaus mit. Sie sagt aber auch: "Grundsätzlich ist das Recht auf Asyl ein wichtiges Gut und Grundrecht, das auch in der Genfer Flüchtlingskonvention verankert ist, und das wir schützen müssen."

Verwendete Quellen:

  • Stellungnahmen von Lamya Kaddor und Julian Pahlke
  • Bundesamt für Migration und Flüchtlinge: Schlüsselzahlen Asyl 2022
  • vert-realos.de: Memorandum für eine andere Migrationspolitik in Deutschland
  • zdf.de: Markus Lanz vom 14. Februar 2023
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