Wohnraum, ärztliche Versorgung, Sprachkenntnisse - mit welch komplexen Problemen Kommunen zu kämpfen haben, in denen vergleichsweise viele Flüchtlinge leben, berichtete der grüne Landrat Jens Marco Scherf bei "Markus Lanz" (ZDF). Vom Bund fühlt er sich "alleine gelassen".

Eine Kritik
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Er habe durchaus darüber nachgedacht, ob er sich die ZDF-Talkrunde und die damit verbundenen Folgediskussionen wirklich "antun" wolle, gab Kommunalpolitiker Jens Marco Scherf (Bündnis 90/Die Grünen) bei "Markus Lanz" auf Nachfrage des Moderators offen zu.

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Scherf wollte wachrütteln, weil er sich mit seinem Landkreis Miltenberg in Sachen Flüchtlingspolitik vom Bund "alleine gelassen" fühle: "Die Flüchtlinge, die in den staatlichen Einrichtungen nicht untergebracht werden, die werden den Kommunen zugewiesen, und wir machen's irgendwie." Mittlerweile häufig mit "verzweifelten Hilfeaufrufen" und "Bitten an die Bevölkerung", weil es anders nicht mehr ginge.

Das ist das Thema bei "Markus Lanz"

Wie lässt sich der Zustrom von Menschen aus der Ukraine, Afghanistan, Syrien und anderen Ländern bewältigen, war das überhaupt möglich und wenn ja - wie könnte Integration dauerhaft gelingen? Diesen komplexen Fragen rund um die deutsche Flüchtlingspolitik widmete sich die Talkrunde bei "Markus Lanz" am Dienstagabend.

Vor allem der grüne Landrat Jan Marco Scherf aus dem unterfränkischen Landkreis Miltenberg, der im Januar einen verzweifelten Brief an Bundeskanzler Olaf Scholz geschrieben hatte, fand hierzu deutliche Worte: In seinem Landkreis sprenge man "sehenden Auges" die "Leistungsgrenzen", berichtete der verzweifelte Landrat offen. Die Probleme, mit denen er täglich konfrontiert sei, seien vielseitig: Sie reichten von der Unterbringung Geflüchteter über Engpässe in der medizinischen Versorgung bis hin zum Mangel an Lehrerinnen und Lehrern.

Das sind die Gäste

  • Serap Güler, Politikerin und Mitglied des CDU-Vorstandes: "Die Kita-Pflicht ab vier - ich kann da absolut mitgehen."
  • Jens Marco Scherf, grüner Landrat aus Miltenberg: "Flüchtlingshilfe beginnt vor Ort in den Regionen."
  • Martin Machowecz, Journalist und Politikexperte der ZEIT: "Wir müssen uns fragen, was wir schaffen wollen und was wir schaffen können und dann müssen wir überlegen, wie wir das hinkriegen."
  • Juli Zeh, Romanautorin und ehrenamtliche Richterin am Verfassungsgericht des Landes Brandenburg: "Es ist auch wahnsinnig viel gut gelaufen in den letzten Jahren."

Das ist der Moment des Abends bei "Markus Lanz"

Wie vielschichtig die Flüchtlingsproblematik ist, zeigte der Auftritt des Grünen-Politikers Jens Marco Scherf. Er verdeutlichte, dass "das politische Asyl unantastbar" sei - ebenso wie die Pflicht, Menschen aus humanitären Gründen zu helfen. Allerdings gerieten Kommunen wie die seine immer mehr an die Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit. Der rund 130.000 Einwohnerinnen und Einwohner zählende Landkreis kümmere sich derzeit um rund 3.000 Flüchtlinge, die zum Teil schon seit Jahren im Land sind, erklärte Scherf. Dazu seien kürzlich rund 1.600 Menschen aus der Ukraine gekommen. Wöchentlich würden ihm weitere 30, 40 Geflüchtete zugeteilt.

Auch wenn das nicht viel klinge, fehle es doch massiv an Wohnraum. Abgesehen davon, dass eine Unterbringung in Turnhallen und Schulgebäuden ohnehin problematisch sei, würde das wieder mal zulasten der Kinder und Jugendlichen gehen, die in den Pandemiejahren bereits genug mitgemacht haben, gab Scherf zu bedenken.

Überdies gehe es ja "nicht nur darum, die Menschen jetzt in Notunterkünften oder Flüchtlingsunterkünften unterzubringen." Man sei auch mit den "ganzen Folgeaufgaben der Betreuung, der Integration" konfrontiert. Neben dem Wohnraum fehle es auch an der kinderärztlichen Versorgung, Kindergartenplätzen und Lehrkräften: "Da sind wir bei der Macht des Faktischen!"

Auch kulturelle Schwierigkeiten sprach der Miltenberger Landrat an. So würden etwa Lehrerinnen von Vätern teilweise nicht ernst genommen oder muslimische Schülerinnen trauten sich aus Angst vor familiären Konsequenzen nicht, manche Dinge anzusprechen. Außerdem gebe es Kinder, die zwar bereits hier geboren worden waren, bei Schuleintritt aber dennoch kein Wort Deutsch konnten. Man müsse auch als Grüner den Mut haben, solche Missstände anzusprechen, ohne darum gleich alle Flüchtlinge zu verunglimpfen.

Der bislang unbeantwortete Brief, den Scherf Kanzler Scholz geschrieben habe, sei "ein Hilferuf" gewesen, denn die Lage und Aufnahmesituation der Geflüchteten sei "prekär" und drohe für die Kommunen "nicht mehr beherrschbar zu werden". Wie denn eine Lösung aussehen könnte, wollte Markus Lanz von Scherf wissen. Es fange schon "mit einer wirkungsvollen Flüchtlingshilfe vor Ort in den Regionen" an, antwortete der.

"Denn wenn wir uns dort die Situation anschauen, sehen wir, dass die Lage dort weitestgehend desolat ist. Das heißt, wir müssen da viel mehr Verantwortung übernehmen, die Vereinten Nationen, das Flüchtlingshilfswerk wieder ermächtigen, dort wirklich wirkungsvolle Hilfe zu leisten." Darüber hinaus müssten die Kommunen "kurzfristig entlastet", Asylverfahren zügiger bearbeitet und eine Kontrolle darüber erlangt werden, wer überhaupt ins Land komme.

Das ist das Rede-Duell des Abends

Insgesamt verlief der Abend wohltuend sachlich, wie am Ende auch Juli Zeh feststellte. Allgemein beklagte sie einen Verfall der Debattenkultur: "Immer wenn ein Thema sehr stark kontrovers wird, dann werden eben Reflexe frei, die vielleicht früher in dieser Form noch nicht so da waren, nämlich eben nicht mit Sachargumenten sich aufeinander einzulassen, sondern eher zu versuchen, Sprechberechtigungen infrage zu stellen." An diesem Abend aber habe die Runde bewiesen, "dass man ganz normal über sogenannte 'heikle' Eisen reden kann".

Eine Spitze gegen Lanz erlaubte sie sich aber doch. Als der nämlich aus Scherf und später aus Güler partout herauskitzeln wollte, dass sie pro Zäune an den EU-Außengrenzen seien, schritt die Autorin ein: "Sie wollen so'n Zitat, oder? Sie wollen so'n Zitat produzieren, wo steht: Soundso ist für Zäune."

Nein, wolle er nicht, bestritt Lanz: "Ich möchte gerne, dass wir mal aufhören, immer um den heißen Brei herumzureden." "Ja, aber die Antwort ist differenzierter als der eine Satz", konterte Zeh. "Nach dem P-Wort kommt das Z-Wort", pflichtete Scherf ihr in Anspielung an Friedrich Merz (CDU) bei, der im Januar bei Lanz arabischstämmige Schüler "kleine Paschas" genannt hatte und dafür heftig kritisiert worden war.

So hat sich Markus Lanz geschlagen

Insgesamt gar nicht schlecht - was sicher auch den weitgehend ruhig und sachlich argumentierenden Gästen geschuldet war, die spürbar nicht auf Krawall aus waren. Über Lanz' häufiges Betonen, dass wir alle uns jetzt doch bitte "mal ehrlich machen" sollten, amüsierte sich zwar die Twitter-Gemeinde, und das sture Beharren auf der Zäune-Frage hätte er vielleicht abkürzen können. Doch sein Wunsch, der Talkrunde neben hehren Worten auch konkrete Lösungsvorschläge zu entlocken, war nachvollziehbar und das Nachhaken dazu meist sinnvoll platziert.

Unter anderem intervenierte der Moderator bei Serap Güler, als diese über junge, nordafrikanischen Flüchtlinge sprach. Diese habe sie in einem marokkanischen Lager getroffen, und sie hätten ihr dort von ihren überzogenen Illusionen erzählt. Diese hätten keinerlei Qualifikation oder Ausbildung geschweige denn handwerkliche Begabung: "Vielleicht sind die handwerklich begabt und wir wissen's nicht, das kann ja sein", warf Lanz kritisch ein.

Das ist das Fazit bei "Markus Lanz"

In Sachen Flüchtlingspolitik und Integration besteht dringend Handlungsbedarf - und zwar nachhaltig und auf mehreren Ebenen. "Alle drei, vier Jahre" entdecke man das Thema "mal wieder", beklagte Martin Machowecz, "weil wir merken: Ah, jetzt ist grad wieder so'n Peak, jetzt müssen wir irgendwas tun." Eigentlich hätte man seit 2015 in der EU und in Deutschland daran arbeiten sollen, "wie wir das Problem wirklich großflächig angehen".

Über das Wie teilten sich die Meinungen - während etwa Güler für eine Kita-Pflicht ab vier Jahren plädierte, die auch vielen deutschen Kindern sprachlich zugutekäme, merkte Zeh an: "Es muss aber auch gewährleistet sein, dass das in der Realität mit etwas ausgefüllt werden kann." Grundsätzlich entpuppte sie sich aber als die Optimistischste in der Runde. "Wahnsinnig viel" sei in den letzten Jahren auch "gut gelaufen". Eigentlich sei Integration in Deutschland eine Erfolgsgeschichte. Das solle man sich "immer mal wieder vor Augen führen, um zu verstehen, dass wir das können."  © 1&1 Mail & Media/teleschau

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