• Die deutsche Asylpolitik steht seit Jahren in der Kritik.
  • Laut der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik leben heute rund eine Viertelmillion Menschen in Deutschland ohne legalen Aufenthaltsstatus.
  • Ein Fachanwalt für Asylrecht erklärt, welche Probleme aus der aktuellen Rechtslage entstehen.
Ein Interview

Die deutsche Asylpolitik wird seit Jahren kritisiert. Zum einen wird viele Menschen in Deutschland durch einen Duldungsstatus keine Zukunftsperspektive ermöglicht. Zum anderen wird nicht konsequent genug abgeschoben, heißt es. Und die Konsequenz ist eine große Grauzone: Laut der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik leben heute rund eine Viertelmillion Menschen in Deutschland ohne legalen Aufenthaltsstatus. Geduldete Personen dürfen laut deutschem Recht weder arbeiten noch haben sie ein Anrecht auf Integrationskurse.

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Unsere Redaktion hat mit Philipp Pruy, Fachanwalt für Asylrecht, über die Probleme gesprochen, die aus der aktuellen Rechtslage entstehen.

Vergangene Woche hat ein Mann, der aus dem Gaza-Streifen stammt, in einem Zug zwischen Hamburg und Kiel zwei Menschen getötet und weitere verletzt. Der Mann war mehrfach vorbestraft. Warum war er noch nicht abgeschoben worden?

Philipp Pruy: Der Betreffende hatte einen asylrechtlichen Schutzstatus. Im Grunde gibt es davon drei: den politischen Flüchtling, der individuell verfolgt wird; den subsidiär Schutzberechtigten, das wäre beispielsweise ein Bürgerkriegsflüchtling aus Syrien; und dann gibt es sogenannte Abschiebungsverbote, beispielsweise aus humanitären oder medizinischen Gründen. Der Attentäter aus dem Zug hatte nach meinem Kenntnisstand eine Fiktionsbescheinigung. Damit wäre er zumindest legal in Deutschland gewesen.

Aber er hatte zahlreiche Straftaten begangen.

Deshalb hätte ihm sein Schutzstatus auch widerrufen werden können. Er hätte deshalb ausgewiesen werden können, aber nicht abgeschoben.

Darum konnte der mutmaßliche Täter von Brokstedt nicht abgeschoben werden

Weshalb?

Weil es in die palästinensischen Autonomiegebiete keine Abschiebungen gibt.

In welche Staaten kann noch nicht abgeschoben werden?

Es gibt zahlreiche Beispiele, das prominenteste wäre aktuell die komplette Russische Föderation. Das geht schon deswegen nicht, weil die Russische Föderation aufgrund der aktuellen politischen Lage niemanden mehr zurücknimmt. Außerdem gibt es keine Flugverbindungen mehr, die man nutzen könnte. Ein anderes Beispiel ist Afghanistan. Es gibt kein Rückführungsabkommen mit den Taliban. Auch in den Irak wurde fast 25 Jahre lang nicht abgeschoben.

Und diese Menschen sind dann geduldet …

Genau. Geduldet bedeutet, jemand ist ausreisepflichtig, weil er kein Aufenthaltsrecht hat, er kann aber aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen nicht abgeschoben werden. Tatsächliche Gründe könnten solche sein wie im Fall von Gaza, dass es dort keinen Zielflughafen gibt, wohin man abschieben kann. Rechtliche Gründe könnten sein: Eine familiäre Lebensgemeinschaft mit einem deutschen Kind. Das bedeutet nicht, dass man einen Aufenthaltstitel hat, insbesondere nicht, wenn Straftaten vorliegen. Aber das Grundgesetz sieht den Schutz von Ehe und Familie vor, deshalb würde hier nicht abgeschoben werden.

"Bei schweren Straftaten kann ein Widerrufsverfahren eingeleitet werden"

In Deutschland leben laut der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik rund eine Viertelmillion Menschen, die geduldet sind. Sie dürfen nicht arbeiten und kommen hier nie wirklich an. Inwiefern ist das sinnvoll?

Dieses Problem besteht schon recht lange. Im Gegensatz zu den USA haben wir in Deutschland zumindest die Duldung, also irgendeinen rechtlichen Status. Zum Jahreswechsel hat die Regierung den sogenannten Chancen-Aufenthalt eingeführt. Das heißt, wenn jemand zum Stichtag 31. Oktober 2021 fünf Jahre am Stück hier ist und keine wesentlichen Straftaten begangen hat, bekommt er einen Aufenthaltstitel auf Probe für eineinhalb Jahre. In dieser Zeit hat er die Chance, seine Identität vollständig zu klären, seine Deutschkenntnisse zu vertiefen und Arbeit zu finden. Damit hat er dann die Möglichkeit, einen Aufenthaltstitel für gut Integrierte zu bekommen.

Sie nannten jetzt bereits Straftaten als Ausschlusskriterium für einen Aufenthaltstitel. Durch welche Straftaten kann ein Schutzstatus aufgehoben werden?

Es kann ein sogenanntes Widerrufsverfahren eingeleitet werden. Das kann der Fall sein, wenn bestimmte schwere Straftaten vorliegen, beispielsweise Sexualstraftaten oder Straftaten gegen die körperliche Unversehrtheit.

Das wäre ja bei dem Attentäter aus dem Zug der Fall gewesen.

Genau. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge hätte dieses Verfahren einleiten können. Am Ende dieses Verfahrens kann der Schutzstatus komplett entzogen werden. Für die Abschiebung ist aber nicht das Bundesamt zuständig, sondern die zentrale Ausländerbehörde des jeweiligen Bundeslandes.

"Die Bundesländer sind zuständig für das Ausländerrecht"

Also ist der Föderalismus auch hinderlich für konsequente Abschiebungen?

Es gibt definitiv ein Nord-Süd-Gefälle. Bundesländer wie Bayern schieben deutlich rigoroser ab als beispielsweise Berlin. Es ist auch bekannt, dass es in Nordrhein-Westfalen einfacher ist an einen Aufenthaltstitel zu kommen als in Bayern, obwohl es sich um ein Bundesgesetz handelt.

Würde eine einheitlichere Linie hier Sinn ergeben?

Es wäre sicherlich sinnvoll, aber die Länder sind zuständig für Ausländerrecht. Deshalb ist es gesetzgeberisch nicht ohne weiteres möglich, das zu vereinheitlichen. Die Grundlage bietet ein Bundesgesetz, aber die Regierungen der Länder können bestimmen, wie das umgesetzt wird. Deshalb sind eher linksgeführte Bundesländer deutlich zurückhaltender in der Handhabung als konservativer regierte Länder wie beispielsweise Bayern.

Über den Experten:
Philipp Pruy ist Fachanwalt für Migrationsrecht sowie für Strafrecht. Er führt eine auf Ausländer- und Strafrecht spezialisierte Kanzlei in Regensburg. 2021 wurde dem Rechtsanwalt im dritten Jahr in Folge vom internationalen Branchenmagazin "IAE" der International Advisory Experts Award in der Kategorie "Immigration Law within Germany" verliehen.

Verwendete Quellen:

  • Gespräch mit Philipp Pruy
  • dgap.org: Deutsche Rückkehrpolitik und Abschiebungen
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