Kurz vor seiner Fertigstellung wollen die USA das "Nord Stream 2"-Projekt mittels Sanktionen stoppen. Kritiker der Pipeline befürchten einen wachsenden geopolitischen Einfluss von Wladimir Putin. Was steckt hinter dem Konflikt?

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Die Unterwasser-Gasleitung "Nord Stream" macht es bereits vor: Seit 2011 transportiert sie jährlich 55 Milliarden Kubikmeter russisches Erdgas in die EU. Mit Ausgangspunkt im russischen Wyborg verläuft die Ostsee-Pipeline auf dem Grund des Meeres bis ins deutsche Lubmin bei Greifswald.

Mit "Nord Stream 2" soll die Trasse bald eine Schwester bekommen. An Polen und der Ukraine vorbei soll die Pipeline die Transportkapazitäten für russisches Erdgas nach Deutschland verdoppeln.

Eigentümer und Betreiber sind die internationalen Konsortien Nord Stream AG und Nord Stream 2 AG – die russische Erdgasgesellschaft Gazprom ist in beiden Fällen Mehrheitsaktionär. Hinzu kommen führende europäische Energieunternehmen, darunter die deutschen Energiekonzerne Wintershall und E.on.

Ursprünglich war die Inbetriebnahme für Ende 2019 angesetzt. Mehr als 90 Prozent der Pipeline sind bereits fertiggestellt. Doch die jüngst durch die USA verhängten Sanktionen könnten das Projekt nun, kurz vor seiner Fertigstellung, stoppen.

"Nord Stream 2" ein "Hebel für Russland"?

Kritik gibt es schon lange. 2018 bezeichnete der damalige Außenminister Estlands Sven Mikser im Gespräch mit der Zeitung "Die Welt" Nord Stream 2 als einen "Hebel für Russland, um in die europäische Politik einzugreifen."

Es handele sich nicht um ein wirtschaftliches, sondern um ein geopolitisches Projekt. "Es ist schlicht und einfach im Interesse der EU, das Projekt zu stoppen", so Miksers Fazit.

Ganz ähnlich sehen das die USA. Sie argumentieren, dass sich Deutschland durch die Pipeline abhängig von Russland macht.

Politikwissenschaftler Sebastian Schäffer ist Gründer der Expertenplattform SSC Europe und beschäftigt sich schwerpunktmäßig mit europäischer Nachbarschaftspolitik und EU-Russland Beziehungen.

Er sagt im Gespräch mit unserer Redaktion: "Wenn von einem geopolitischen Projekt gesprochen wird, meint das die Befürchtung, dass die Pipelines Russland nicht nur mehr als 80 Prozent der russischen Gasexporte in die EU sichern, sondern vor allem wachsenden Einfluss für Präsident Putin bedeuten." Dabei spielten die Transitländer eine große Rolle.

Umgehung von Transitländern

"Ich würde den wachsenden Einfluss zwar nicht quantifizieren, es wird aber bedeutende Auswirkungen auf den Umgang mit der Ukraine geben", sagt Schäffer.

Der Ukraine und der Slowakei drohe ein erheblicher Verlust von Transitgebühren. "Die Transitgebühren machen einen nicht unerheblichen Teil der Staatseinnahmen für die Ukraine aus", so Schäffer.

Mit Blick auf die Gegner aus der EU sagt er: "In der EU wächst die Angst vor einer gewissen Hegemonie Deutschlands in Hinblick auf die Gaslieferungen aus Russland und der gleichzeitigen Abhängigkeit von Russland, wenn die Energiezufuhr so wenig diversifiziert ist."

Der Experte kann die Kritik nachvollziehen. "Es besteht keine zwingende wirtschaftliche Notwendigkeit, das Projekt ist sogar wahnsinnig teuer. Rund zehn Milliarden Euro soll Nord Stream 2 kosten. Es gäbe alternative Möglichkeiten: Die Investition in erneuerbare Energien oder eine diversifiziertere Energiezufuhr durch mehrere Lieferanten", so Schäffer. Dass es sich auf beiden Seiten auch um ein politisches Projekt handelt, ist für ihn gesichert.

Propaganda-Erfolg für Putin

Volkswirtschaftler Dr. Roland Götz, der lange Zeit am Bundesinstitut für ostwissenschaftliche und internationale Studien in Köln tätig war, hält dagegen: "Für die Behauptung, dass 'Nord Stream 2' ein politisches Projekt des Kremls sei, gibt es keine stichhaltigen Gründe."

In den Augen von Götz kann "Nord Stream 2" von Putin nicht als politisches Instrument eingesetzt werden. Die Befürchtung, Moskau könne im Konflikt den Gashahn zudrehen, erachtet er als unberechtigt.

"Technisch gesehen kann Russlands Regierung den Gasexport nach Westen auch ohne die Existenz von 'Nord Stream 2' an der russischen Grenze blockieren. Wegen der dann zu erwartenden erheblichen negativen ökonomischen und politischen Rückwirkungen ist ein derartiger Schritt allerdings höchst unwahrscheinlich", so Götz.

Der Volkswirt räumt jedoch ein: "Die erfolgreiche Inbetriebnahme von 'Nord Stream 2' wäre für Putin allerdings ein Propaganda-Erfolg."

Dieser Einschätzung schließt sich auch Schäffer an und betont, dass ein Druckmittel für die EU wegfalle: "Nun kann man nicht mehr einfach sagen, man verzichte auf Gaslieferungen Russlands, wenn es im Ukraine-Konflikt Eskalationen gibt", so der Experte.

Götz' Einschätzung nach ist zu erwarten, dass Gazprom im eigenen Interesse den Ukraine-Transit weiter nutzen wird, um bei voller Auslastung der Ostsee-Pipelines saisonale Lieferschwankungen ausgleichen und den Gasexport Richtung Westen steigern zu können.

Ukraine warnt Deutschland

Bei einem Treffen zwischen Putin und Kanzlerin Angela Merkel im Mai 2018 betonte der russische Staatspräsident zwar, dass die Lieferungen durch die Ukraine auch nach dem Bau von "Nord Stream 2" fortgesetzt würden "wenn dies wirtschaftlich begründet und sinnvoll ist für alle Beteiligten".

Volkswirt Götz aber ist skeptisch: "Kein Staat kann der Ukraine Garantien für einen bestimmten Umfang des Gas-Transits nach 2019 geben, da dieser von der Entwicklung der Gas-Nachfrage in Europa, den in der Ukraine anfallenden Transitgebühren und damit von Gazproms ökonomischer Kalkulation abhängt."

Die Vorstandsvorsitzende des staatlichen ukrainischen Energiekonzerns Naftogaz, Andrij Koboljew, hatte Deutschland in der Vergangenheit jedoch bereits vor einem Ende der Gaslieferungen über die Ukraine gewarnt. "Wenn der Ukraine-Transit stirbt, wird Deutschland praktisch zum einzigen Eintrittspunkt für russisches Erdgas in die EU", so Koboljew.

Dass Deutschland dadurch erpressbar werden könnte, wie US-Präsident Donald Trump moniert, sieht Experte Götz nicht. Deutschland sei unabhängig von Lieferwegen für Erdgas aus Russland durch einen Lieferstopp nicht erpressbar, "weil Gazprom und Russland sich damit selbst enorm schaden würden. Deutschland ist durch seine geografische Lage in der Mitte Europas ein natürliches Energiezentrum, ohne dadurch die EU dominieren zu können."

Politikwissenschaftler Schäffer sieht das ähnlich: "Die Interdependenzen sind beidseitig, Russland muss seine Rohstoffe auch exportieren können."

Alternativangebot: US-Flüssiggas

US-Präsident Donald Trump bekämpft das Projekt vehement, weil die USA selbst sogenanntes Liquefied Natural Gas (LNG) per Tanker nach Europa exportieren wollen. Die Russen sind in den Augen der Amerikaner also vor allem Marktkonkurrent.

Aber ist LNG für die Europäer überhaupt attraktiv? Das heruntergekühlte US-Flüssiggas würde die Energiezufuhr diversifizieren, der Transport auf Spezialschiffen ist aber deutlich teurer als per Gaspipeline.

Experte Götz äußert sich daher verhalten: "In welchem Umfang Flüssiggas aus den USA nach Europa importiert werden wird, hängt davon ab, ob es auf dem europäischen Markt gegenüber Pipeline-Gas und Flüssiggas anderer Anbieter preislich konkurrenzfähig und verfügbar sein wird."

Schäffer hat noch ganz andere Bedenken: "Wir können nicht in der EU auf die Einhaltung von Klimazielen pochen und dann Teile unseres Energiebedarfs mit Gas aus den USA abdecken, das mittels umweltschädlicher Methoden wie Fracking gewonnen wurde." Das sei scheinheilig. "Die Kosten müssen hier gut abgewogen werden", so der Politikwissenschaftler weiter.

Ein anderer Gegner von "Nord Stream 2" sind nämlich die Umweltverbände. So zum Beispiel der Naturschutzbund Nabu, der vor allem das sensible Gleichgewicht der Ostsee und die Fischerei in Gefahr sieht.

Deswegen hatte die Organisation 2018 nicht nur eine Beschwerde gegen den Bau der Pipeline vor dem Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe eingereicht, sondern auch einen Antrag auf Baustopp gestellt – allerdings ohne Erfolg.

Kann Nord Stream 2 noch scheitern?

In den Augen von Experte Schäffer kocht die gesamte Debatte über "Nord Stream 2" umsonst wieder hoch. "Die Diskussionen hatten wir schon vor zehn Jahren, als es um 'Nord Stream' ging. Wir haben versäumt, daraus Lehren für einen konstruktiven Dialog zu ziehen", lautet sein Urteil.

Ist das Projekt "Nord Stream 2" durch die Kritik und die US-Sanktionen also gefährdet? Wohl eher nicht. Die Sanktionen zielen nämlich auf die Betreiberfirmen von speziellen Schiffen ab, mit deren Hilfe die Rohre für die Ostsee-Pipeline verlegt werden. Gegen Manager dieser Firmen und deren Hauptaktionäre mit Kontrollmehrheit will Amerika ein Einreiseverbot verhängen.

Außerdem sollen Transaktionen der Betroffenen blockiert werden, die im Zusammenhang mit Besitztümern oder geschäftliche Interessen innerhalb der USA stehen.

Vollständig zum Erliegen dürften die Bauarbeiten an der Pipeline, die bereits zu 90 Prozent fertiggestellt ist, dadurch nicht kommen. Weil die Zahl der für den Bau geeigneten Schiffen aber relativ gering ist, könnten die Arbeiten an "Nord Stream 2" massiv behindert werden.

Dass das Projekt auf der Zielgeraden aber völlig scheitert, ist aktuell eher nicht vorstellbar. Wahrscheinlicher ist eher, dass die Pipeline mit Verspätung in Betrieb genommen werden könnte.

Über die Experten:
Sebastian Schäffer ist Absolvent des Elitemasterstudiengangs Osteuropastudien an der Universität Regensburg und hat an der LMU Politikwissenschaft, Europarecht und Slavistik studiert. Er ist Gründer und Inhaber von SSC Europe, einem Kompetenznetzwerk für Seminare, Simulationen und Consulting. Schäffer arbeitet als Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für den Donauraum und Mitteleuropa (IDM) in Wien.
Dr. Roland Götz studierte Volkwirtschaftslehre an der FU Berlin und lehrte an den Universitäten Augsburg und Bielefeld. Er beschäftigte sich von 1986 bis 2000 am Bundesinstitut für ostwissenschaftliche und internationale Studien in Köln mit der Sowjetwirtschaft und der Wirtschaftstransformation der Nachfolgestaaten der UdSSR. Bis zu seinem Ruhestand 2008 arbeitete er bei der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP).
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