Das Thema Seenotrettung ist zurück in der politischen Debatte: Während sich Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) von Finanzierungszusagen gegenüber privaten Hilfsorganisationen distanziert, werfen NGOs den europäischen Staaten Untätigkeit vor. Doch wie ist die Rechtslage? Und was hat es mit dem Mythos vom Pull-Faktor auf sich? Wir klären die wichtigsten Fragen.

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Neben den Kriegen in Nahost und der Ukraine polarisiert aktuell kein anderes Thema so sehr wie die Migration. Nach Einschätzungen von Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) könnten in diesem Jahr bis zu 300.000 Flüchtlinge nach Deutschland kommen – so viele wie zuletzt in den Jahren 2015/2016.

Seenotrettung, Migration, Asylpolitik, Flüchtlinkspolitik
Die Seenotrettung ist aktuell wieder in den politischen Fokus gerückt. Nichtregierungsorganisationen werfen den Behörden vor, sie zögen sich systematisch aus der Seenotrettung zurück. © IMAGO/Fotostand/Reuhl

Der Großteil dieser Flüchtlinge wird voraussichtlich den Weg nach Europa über das Mittelmeer antreten. Seit Anfang 2023 haben Schätzungen des UNHCR zufolge mehr als 57.000 Menschen diesen gefährlichen Pfad gewählt, mehr als 980 sollen dabei gestorben sein. Nichtregierungsorganisationen wie "Sea-Watch" argumentieren, dass ein erheblicher Teil dieser Tragödien auf das Konto europäischer Staaten gehe, die ihre Beteiligung an der Seenotrettung reduziert oder die Arbeit privater Seenotretter behindert hätten.

Der kürzliche Streit innerhalb der Regierungskoalition über die Finanzierung privater Seenotrettungsmissionen hat dieses Thema nun erneut ins Zentrum der politischen Diskussion gerückt.

Was ist zivile Seenotrettung?

Die Verantwortlichkeit für die Rettung von Menschen in Seenot wurde erstmals im Jahr 1910 im "Übereinkommen zur einheitlichen Feststellung von Regeln über die Hilfeleistung und Bergung in Seenot" verankert. Das Übereinkommen regelt, dass "jeder Kapitän verpflichtet ist, allen Personen, selbst feindlichen, die auf See in Lebensgefahr angetroffen werden, Beistand zu leisten, soweit er dazu ohne ernste Gefahr für sein Schiff und für dessen Besatzung und Reisende imstande ist." Heißt: Nicht nur staatliche Schiffe haben die Aufgabe, Menschen in Seenot zu helfen, sondern auch private und kommerzielle.

Dennoch kommt den Staaten eine besondere Rolle zu, da die Meere in sogenannte Seenotrettungszonen unterteilt sind. Die Zuständigkeit zur Koordinierung einer Rettungsaktion richtet sich danach, in welcher Zone sich das in Not geratene Schiff befindet. Das betroffene Land ist dann dafür verantwortlich, die Rettung durch seine Koordinierungsstelle zu lenken und jene Schiffe zu dirigieren, die am schnellsten am Ort des Geschehens eintreffen können. Da derzeit jedoch kein europäisches Seenotrettungssystem besteht, spielen die NGOs die entscheidende Rolle bei der Rettung von Ertrinkenden.

Wer ist in der zivilen Seenotrettung aktiv?

In den vergangenen Jahren wurde die staatliche Seenotrettung stark eingeschränkt. Während in den Jahren 2013 und 2014 die italienische Marinemission "Mare Nostrum" staatliche Schiffe im Mittelmeer zur Rettung von Menschen einsetzte, konzentrieren sich die staatlichen Nachfolgeoperationen "Triton" und "Sophia" hauptsächlich auf die Bekämpfung von illegaler Migration und von Schleppernetzwerken. Die letzte große Mittelmeer-Operation "Sophia", die 2020 eingestellt wurde, hatte beispielsweise keine eigenen Schiffe mehr, sondern konzentrierte sich zuletzt ausschließlich auf die Luftüberwachung.

Mit dem Ende der Mare-Nostrum-Mission 2014 haben sich zahlreiche private Organisationen gebildet, um die entstandene Lücke zu schließen. Nach Angaben der EU-Grundrechteagentur FRA sind derzeit 16 größere und kleinere Schiffe von Nichtregierungsorganisationen im Mittelmeer aktiv, wobei die meisten von sechs deutschen NGOs betrieben werden, darunter dem Verein "Sea-Watch".

Spanische NGOs wie "Open Arms" aus Barcelona sowie die in Deutschland, Frankreich, Italien und der Schweiz ansässige Organisation "SOS Méditerranée" mit ihrem Schiff "Ocean Viking" sind ebenfalls aktiv. Auch der niederländische Ableger von "Ärzte ohne Grenzen" und die italienischen NGOs "Saving Humans" und "ResQpeople" setzen Schiffe auf dem Mittelmeer zur Rettung von Menschen ein.

Gibt es Pläne für eine staatliche Seenotrettung?

Derzeit führt kein EU-Staat organisierte Rettungsaktionen auf dem Mittelmeer durch, die über die Koordinierung von Missionen hinausgehen, im Gegenteil: Länder wie Italien, Malta und Griechenland erschweren privaten Seenotrettern zunehmend die Arbeit, teilweise mithilfe fragwürdiger Gesetze.

Im Februar hat beispielsweise die italienische Regierung unter Giorgia Meloni ein Gesetz verabschiedet, das Rettungsschiffen pro Einsatz nur eine Rettungsaktion gestattet, es sei denn, die Küstenwache erteilt eine gegenteilige Genehmigung. Auf dieser Grundlage wurden zuletzt mehrere Schiffe festgesetzt, darunter das Schiff "Sea Eye 4" des Regensburger Vereins "Sea-Eye" und das spanische Schiff "Open Arms".

Die wohl prominenteste europäische Stimme für eine staatliche Seenotrettung kam zuletzt – ausgerechnet – aus der CSU. Der Europapolitiker Manfred Weber, Chef der Europäischen Volkspartei (EVP), hatte sich im Juni dafür ausgesprochen, eine "neue europäische Rettungsinitiative" im Mittelmeer zu starten.

"Ich würde mir wünschen, dass wir neben der Unterstützung für Rettungsorganisationen wie Sea-Eye auch als Bundespolizei zum Beispiel Schiffe ins Mittelmeer schicken, um dort gemeinsam Verantwortung zu übernehmen als Europäer", so Weber. Viele Verbündete in den europäischen Regierungszentralen hat Weber mit dieser Position aber nicht.

Wie unterstützt Deutschland die zivile Seenotrettung?

Deutschland ist derzeit das einzige Land in Europa, das die private Seenotrettung finanziell unterstützt. Der Haushaltsausschuss hat im Jahr 2022 beschlossen, von 2023 bis 2026 jährlich zwei Millionen Euro für private Seenotrettungsmissionen bereitzustellen. Bisher haben zwei Organisationen finanzielle Zusagen erhalten: Sea-Eye (365.000 Euro) und SOS Humanity (790.000 Euro). Bereits in ihrem Koalitionsvertrag von 2021 haben die Ampelparteien betont, dass die zivile Seenotrettung nicht behindert werden dürfe. Zudem wolle man sich für eine staatlich koordinierte europäische Seenotrettung einsetzen.

Von diesem Vorhaben ist aktuell nur wenig zu spüren. Es fehlen nicht nur Verbündete in Europa – auch innerhalb der Ampelkoalition wächst der Widerstand gegen die Unterstützung privater Seenotretter. Bundeskanzler Scholz hat sich erst vor wenigen Tagen von der öffentlichen Finanzierung der Seenotrettung distanziert und dabei betont, dass die Gelder vom Bundestag und nicht von der Regierung genehmigt worden seien.

Die FDP plant ebenfalls, in den kommenden Haushaltsverhandlungen eine Beendigung der staatlichen Unterstützung für Seenotretter zu erwirken. Ihr Fraktionsvorsitzender Christian Dürr bezeichnete dies als Teil eines "perfiden und inhumanen Systems".

Hat sich der Staat komplett aus der Seenotrettung zurückgezogen?

Es ist der Hauptvorwurf vieler NGOs: Der Staat ziehe sich systematisch aus der Seenotrettung zurück und überlasse die Menschen auf dem Mittelmeer ihrem Schicksal. Dieser Vorwurf ist jedoch nur in Teilen korrekt. Nach wie vor sind die Staaten in ihren Rettungszonen im Mittelmeer aktiv und koordinieren in den meisten Fällen die Einsätze der privaten NGOs.

Auch die Überwachung aus der Luft wird weiterhin mit staatlichen Flugzeugen durchgeführt. Dennoch gibt es insbesondere über Malta die Klage, das Land sehe in den eigenen Rettungszonen großzügig weg und greife nicht ein, wenn Migranten auf überfüllten Booten ihre Reise fortsetzten.

Ist Seenotrettung ein Pull-Faktor?

Es ist der Hauptvorwurf gegen die Seenotretter: Vor allem konservative Politiker argumentieren, die NGOs betrieben das Geschäft der Schlepper, indem sie Menschen dazu ermutigten, die gefährliche Überfahrt über das Mittelmeer anzutreten – in der Hoffnung, gerettet zu werden. Zuletzt argumentierte CDU-Politiker Thorsten Frei: "Je mehr Schiffe im Mittelmeer zur Rettung unterwegs sind, desto mehr Menschen machen sich mit seeuntauglichen Booten auf den gefährlichen Weg und bringen sich in Lebensgefahr."

Wissenschaftlich ließ sich diesem Vorwurf bis vor kurzem wenig entgegensetzen. Anfang August wollen Forscher rund um die Sozialwissenschaftlerin Alejandra Rodríguez Sánchez von der Universität Potsdam jedoch herausgefunden haben, dass das Argument vom Pull-Faktor nachweislich falsch ist. Dazu haben die Wissenschaftler die Daten der Überfahrten von 2011 bis 2020 ausgewertet und um verschiedene Faktoren bereinigt, darunter die Anzahl der staatlichen und privaten Such- und Rettungsaktionen, Wechselkurse, Rohstoffpreise, Konflikte, Gewalt und Wetterbedingungen.

Ihr Ergebnis: Die Daten, die unter anderem von der EU-Grenzschutzagentur Frontex, der libyschen und der tunesischen Küstenwache sowie der Internationalen Organisation für Migration (IOM) stammen, lassen nicht den Schluss zu, dass Rettungsmissionen einen Effekt auf die Zahl der Migranten haben, die die Überfahrt wagen.

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Warum bringen die Seenotretter die Menschen nach Europa?

Gemäß internationalem Seerecht sollen die aus Seenot geretteten Menschen an einen "sicheren Ort" gebracht werden. Dieser ist in den "Richtlinien für die Behandlung von auf See geretteten Personen" als Ort definiert, an dem das Leben der Überlebenden nicht mehr gefährdet ist und an dem ihre menschlichen Grundbedürfnisse, also Nahrung, Unterkunft und medizinische Versorgung, abgedeckt sind.

Im Fall von Asylsuchenden und Flüchtlingen definiert das Abkommen zudem, dass eine Ausschiffung in Gebiete, in denen "das Leben und die Freiheit der Personen (…) in Gefahr wäre", vermieden werden soll. Nach Einschätzungen von Menschenrechtsexperten und dem UNHCR scheiden damit Länder wie Libyen angesichts der menschenrechtswidrigen Bedingungen für die Ausschiffung von Flüchtlingen aus. Auch Länder wie Tunesien und Ägypten sind nach Einschätzung der Organisation nicht als "sicheres Drittland" geeignet, weil die staatlichen Aufnahmesysteme überlastet seien.

Dennoch ergibt sich damit nicht automatisch das Recht, Flüchtlinge in den nächsten europäischen Hafen auszuschiffen. Zwar haben die Länder, in deren Rettungszone sich das Schiff befindet, die Verantwortung für die Koordinierung der Flüchtlinge. Die Aufnahme der Menschen beinhaltet diese Obligation aber nicht.

Verwendete Quellen:

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