• In seiner Zeitenwende-Rede kündigte Olaf Scholz ein Sondervermögen von 100 Milliarden Euro für die Bundeswehr an.
  • Reicht dieses Geld aus, um bisherige Probleme der Bundeswehr zu lösen oder handelt es sich bei dem Sondervermögen gar um eine Mogelpackung?
  • Zwei Experten erklären, welche Anschaffungen mit dem Sondervermögen getätigt werden sollen und welche Herausforderungen gemeistert werden müssen.
Eine Analyse
Dieser Text enthält eine Einordnung aktueller Ereignisse, in die neben Daten und Fakten auch die Einschätzungen von Clemens Sarholz sowie ggf. von Expertinnen oder Experten einfließen. Informieren Sie sich über die verschiedenen journalistischen Textarten.

Die Zeitenwende-Rede brachte Olaf Scholz schlagartig internationale Anerkennung. "The Economist", "The New York Times", "The Guardian", die größten und wichtigsten Zeitungen der westlichen Welt zollten dem Bundeskanzler Respekt für seine "180-Grad-Wende" ("The Guardian") in der Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik.

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Mit dieser Rede brachte Scholz erstmalig das Sondervermögen in Höhe von 100 Milliarden Euro ins Spiel. Doch was hat es damit genau auf sich? Welche Anschaffungen sollen gemacht und welche Probleme gelöst werden? Reicht das Geld überhaupt? Und wo liegen die Herausforderungen? Sind die 100 Milliarden Euro vielleicht sogar eine Mogelpackung?

Welche Probleme will man mit dem Geld beheben?

Der Sicherheitsexperte und Herausgeber der Plattform Lagebild.media, Christian Hübenthal, erklärt im Gespräch mit unserer Redaktion, dass "mit dem 100-Milliarden-Sondervermögen ein Investitionsstau" behoben werden soll. Die verschiedenen Streitkräfte, wie Heer, Luftwaffe und Marine, hätten in der Vergangenheit Anschaffungen gefordert, die von der Bundesregierung nicht bewilligt worden seien.

Es gehe darum, die Streitkräfte zu reparieren. Für diese Reparatur sollen in den kommenden fünf Jahren 100 Milliarden Euro bereitgestellt werden. Im nächsten Jahr werden, zur Beseitigung der Ausstattungsdefizite, vorerst 8,5 Milliarden Euro aufgewendet.

Hübenthal ist der Meinung, dass es strukturell mehr Geld braucht, um die Streitkräfte auf den neusten Stand der Technik zu bringen. Da deutsche Soldaten international in dem Ruf stehen, ihre Aufträge auch in Mangelsituationen "kreativ und diszipliniert" durchzuführen, glaubt er aber, dass man auch mit diesen Mitteln viel erreichen kann.

Viel wichtiger als der Einsatz der 100 Milliarden Euro sei für ihn die Frage, ob Deutschland es schafft das Zwei-Prozent-Ziel zu erreichen, also zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts für die militärische Verwendung aufzubringen. Dies sei wichtig, um die Folgekosten, die sich aus den Investitionen des Sondervermögens ergeben, finanzieren zu können.

Waffen, Ausbildung und politischer Wille

Mit dem Sondervermögen soll vor allem neues Gerät angeschafft werden: Kampfjets, moderne Panzer, Kriegsschiffe. Das zieht unweigerlich Betriebskostensteigerungen nach sich. "Das angeschaffte Gerät soll ja nicht nur auf dem Hof stehen", sagt er, es müsse auch gewartet, die Soldaten dafür rekrutiert und ausgebildet werden.

Außerdem müsse man unter anderem mit steigenden Löhnen, steigenden Treibstoffpreisen und der Inflation rechnen. Es braucht dauerhaft höhere Aufwendungen: "Sonst müssen die Streitkräfte das Gerät über kurz oder lang irgendwo einmotten." So wie es derzeit auch beim Rüstungskonzern Rheinmetall der Fall sei. Rheinmetall habe etwa 100 eingemottete Marder-Panzer auf dem Hof stehen.

"Wenn man das Gerät 10 oder 15 Jahre nicht benutzt, weil man es nicht unterhalten kann, dann gibt es niemanden mehr, der den Einsatz an den Geräten ausbilden kann, weder in der Technik noch in der Einsatztaktik." Theoretisch könnten die Panzer innerhalb kürzester Zeit fitgemacht werden. Jedoch fehle der politische Wille, meint Hübenthal.

Das zögerliche Verhalten der Bundesregierung, die Ukraine mit Waffen zu versorgen, kann Hübenthal nur schwer nachvollziehen. Er begründet das so: "Polen, Estland, Lettland, Finnland, alle sehen, dass es eine Bedrohung gibt, auf die man konsensual mit Abschreckung reagiert." Die Deutschen seien die einzigen, die ein Eskalationsszenario sehen, und Putins Russland nicht wütend machen wollen.

Mit Putin verhandeln? Experte glaubt nicht mehr daran

"Wer jetzt noch glaubt, man könne sich mit Putin, der einen industriellen Abnutzungskrieg führt, freundlich an einen Tisch setzen und verhandeln, der verschließt die Augen vor der Realität." Putin verhandle nur, wenn der Preis des Krieges zu hoch werde.

Generell gilt, dass eine Armee als Mittel der politischen Strategie genutzt wird. Mit der Unterhaltung einer Armee signalisiert man gegenüber anderen Staaten, dass der Preis für militärische Aggressionen hoch ist, da man selbst auch zu den Waffen greifen könnte. So funktioniert das Szenario der Abschreckung.

Bedauerlich: Heutzutage erkennen gewisse Staaten die Institutionen, die ein friedliches Zusammenleben garantieren sollen, nicht mehr an. Deshalb besinnen sie sich darauf, militärische Stärke zu demonstrieren und auszuspielen. Positiv zu bewerten ist, dass die Schlagkraft der russischen Armee – von ihren Atomwaffen abgesehen – für das Nato-Bündnis keine ernstzunehmende Bedrohung darstellt.

Mehr Eigenverantwortung für die Truppe

Es gibt verschiedene Herausforderungen, die es beim Sondervermögen zu meistern gilt. Der ehemalige Wehrbeauftragte der Bundesregierung (2015–2020), Hans-Peter Bartels, erklärt im Gespräch mit unserer Redaktion: Das Bundesamt für Ausrüstung, Informationstechnik und Nutzung der Bundeswehr (BAAINBw) in Koblenz müsse überhaupt erstmal in die Lage versetzt werden, mit künftig sehr viel größeren Summen umzugehen. Das könne beispielsweise erreicht werden, indem man das BAAINBw bei vielen Aufgaben entlastet.

Derzeit wird nahezu die komplette Beschaffung aus Koblenz heraus organisiert. "Von Kleinkram, der ein paar Tausend Euro kostet, Kugelschreibern, Medikamenten und Feldflaschen, bis hin zu Kampfflugzeugen der sechsten Generation." Man müsse "Allerweltsbeschaffungen" und die "Materialerhaltung" der Truppe wieder selbstverantwortlich überlassen und sie dafür mit dem notwendigen Budget ausstatten. Das BAAINBw könne sich dann auf die militärischen Großaufträge konzentrieren, erklärt Bartels.

Insgesamt sei erkennbar, dass das "Sondervermögen wegschmilzt wie Eis in der Sonne". Laut dem ehemaligen Wehrbeauftragten stellt der Extra-Fonds von 100 Milliarden Euro exakt die Summe dar, die sich aus einer bisherigen Unterfinanzierung der Bundeswehr ergibt.

100 Milliarden Euro: Eine Mogelpackung?

Bartels stellt fest, dass Bundeskanzler Olaf Scholz in seiner Zeitenwende-Rede in Aussicht gestellt hat, die jährlichen Verteidigungsausgaben, wie lange schon im atlantischen Bündnis vereinbart, "ab sofort" auf zwei Prozent des BIP anzuheben. Schaut man sich allerdings den Haushaltsentwurf 2023 (Drucksache 20/3100) an, wird deutlich, dass die Rüstungsausgaben mit 50,1 Milliarden Euro sogar noch geringer ausfallen als 2022 (50,4 Milliarden Euro). Die mittelfristige Finanzplanung der Bundesregierung schreibt auch für die Folgejahre das Einfrieren der Verteidigungsausgaben bei 50 Milliarden Euro vor.

Finanzminister Christian Lindner hatte bereits am Abend der Kanzlerrede im Fernsehen erklärt, dass die zusätzlichen 100 Milliarden Euro auf das Zwei-Prozent-Ziel angerechnet werden. Mit den 8,5 Milliarden Euro, die im Jahr 2023 dem Verteidigungshaushalt aus dem Sondervermögen zufließen sollen, liegt die Quote bei 1,7 Prozent des BIP. Somit wird die Scholz-Zusage nicht erfüllt.

Ein weiterer Kritikpunkt, den Bartels anspricht, betrifft den Wirtschaftsplan für das Sondervermögen. Der ist dem beschlossenen Bundeshaushalt für 2022 beigefügt. In den Verpflichtungsermächtigungen (Drucksache 263/22) wird deutlich, dass lediglich 81,9 Milliarden Euro tatsächlich in neue Beschaffungsvorhaben investiert werden können. Die restlichen 18 Milliarden Euro, so vermutet er, dienen offenbar als Vorsorge, um die steigenden allgemeinen Betriebskosten der Bundeswehr, bei eingefrorenem Verteidigungsbudget, aufzufangen.

"Nur wenn wir den Verteidigungshaushalt kontinuierlich weiter in Richtung zwei Prozent vom BIP erhöhen, wird die umfassende Wiederherstellung des deutschen Beitrags zur militärischen Verteidigung Europas gelingen", sagt Bartels. Der Erfolg des Investitionsprojektes bemisst sich, laut Bartels, an der Einsatzfähigkeit einer voll ausgestatteten Bundeswehr, die nicht weiter mit "hohlen Strukturen" kämpfen muss. "Im Moment haben wir zum Beispiel sechs Panzerbattaillone, aber nur Panzer für vier."

Die Misere der kaputtgesparten Bundeswehr gründet, laut dem ehemaligen Wehrbeauftragten, nicht zuletzt auf der Reform von 2011. Der damalige Verteidigungsminister Thomas de Maizière nannte als "höchsten strategischen Parameter" für die Reform die Schuldenbremse im Grundgesetz. "Heute jedenfalls sollte wieder klar sein, dass der strategische Sinn von Militär in nichts anderem bestehen kann als in möglichst wirksamer Abschreckungs- und Verteidigungsfähigkeit", erklärt Bartels.

Wofür wird das Geld verwendet?

Der digitalen Karrieremesse "Dimension Luft" soll in den kommenden Jahren mit 40,9 Milliarden Euro der größte finanzielle Posten zur Verfügung gestellt werden. Mit dem Geld soll beispielsweise der US-Tarnkappen-Jet F-35 beschafft werden. Das geht aus einem als vertraulich eingestuften Dokument "Projekte Sondervermögen Bundeswehr 2022" hervor, das mittlerweile im Internet frei verfügbar ist. Das Kampfflugzeug ist im Ernstfall in der Lage, im Rahmen des Abschreckungskonzeptes der Nato, die in Deutschland stationierten US-Atombomben zu transportieren.

Weiterhin soll mit dem Geld die Entwicklung und der Kauf des Eurofighter-Jets forciert werden. Geld soll außerdem in die Bewaffnung der Heron-Drohne fließen, die schon seit 2010 als Aufklärungsdrohne der Bundeswehr im Einsatz ist.

Die Beschaffung von schweren Transporthubschraubern und die Entwicklung des weltraumbasierten Frühwarnsystems Twister stehen ebenso auf der Projekt-Liste. Twister ist das Akronym für "Timely Warning and Interception with Space-based TheatEr surveillance" und meint die rechtzeitige Warnung und Abwehr von Flugkörpern durch weltraumgestützte Überwachung.

Das Investitionsvolumen für die Marine-Streitkräfte soll 19,3 Milliarden Euro betragen. Mit dem Geld sollen weitere Kampfschiffe des Typs Korvette 130 und Fregatte 126 angeschafft werden, sowie U-Boote des Typs 212 CD, das Unterwasserortungssystem Sonix und die Flugabwehrrakete IDAS, die von U-Booten benutzt wird, um Flugbedrohungen vom Himmel zu holen.

Beim Heer, also bei den Landstreitkräften geht es vor allem um die Nachfolge des Schützenpanzers Marder und des Transportpanzers Fuchs. Der Schützenpanzer Puma soll zudem nachgerüstet werden, unter anderem mit einem Lenkflugkörpersystem, einem tag- und nachtsichtfähigen Kamerasystem für die Besatzung und digitalen Funkgeräten.

Außerdem soll neue Sanitätsausstattung angeschafft werden, um etwa den Transport oder die erste notfall-chirurgische Versorgung von verwundeten Soldaten sicherzustellen. Insgesamt sind 16,6 Milliarden Euro für das Heer eingeplant. Damit soll unter anderem auch ein Deutsch-Französisches Projekt weiter finanziert werden: Die Entwicklung des Nachfolgers für den Leopard-2-Panzer.

Um die Führungsfähigkeit der Bundeswehr sicherzustellen, vor allem also sichere Kommunikation zu gewährleisten, sollen 20,7 Milliarden Euro ausgegeben werden. Es geht um die Anschaffung neuer Funkgeräte, das Integrieren eines einheitlichen Rechenzentrums und eines Battle Management Systems, das Befehlshabern erleichtert, neue Informationen, die etwa Geheimdienste bereitstellen, im taktischen Geschehen, zu berücksichtigen.

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Für die persönliche Ausrüstung von Soldaten, Nachtsichtgeräte und Kampfstiefel soll es knapp zwei Milliarden Euro geben. Unter diesen Punkt fällt auch die Fortführung des Projekts "Infanterist der Zukunft": Ein deutsches Modernisierungsprogramm, das zur Verbesserung der Gefechtsausrüstung der Infanteriesoldaten ins Leben gerufen wurde.

Der Forschung, Entwicklung und Künstlichen Intelligenz soll 422 Millionen Euro bereitgestellt werden, etwa für die militärische Überwachung großer Räume und für die Navigation.

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Über die Experten:
Christian Hübenthal ist promovierter Jurist und Herausgeber der Online-Plattform Lagebild.media, die in wöchentlichen Briefings, Hintergrundanalysen und aus verschiedenen Perspektiven heraus, die weltweite Sicherheitspolitik beleuchtet. Er hält einen Master der Internationalen Beziehungen und Wirtschaft der Bond University, Australien.
Hans-Peter Bartels ist Politiker der SPD und war von 2015 bis 2020 Wehrbeauftragter des Deutschen Bundestages. Seit Mai 2022 ist er Präsident der Gesellschaft für Sicherheitspolitik. Er studierte Politische Wissenschaften, Soziologie und Volkskunde an der Universität Kiel, an der er auch promovierte. Bis zur Übernahme des Amtes de Wehrbeauftragten war er unter anderem Vorsitzender des Verteidigungsausschusses.

Verwendete Quellen:

  • bmvg.de: Weg frei zur Bewaffnung der Drohne Heron TP mit Präzisionsmunition
  • bundestag.de: Haushalt (Drucksache 20/3100) Seite 30, Ausgaben Haushaltsübersicht
  • Projekte Sondervermögen "Bundeswehr" 2022
  • Gesetz zur Finanzierung der Bundeswehr und zur Errichtung eines "Sondervermögens Bundeswehr" (Drucksache 263/22)
  • behoerden-spiegel.de: Erste F126 kommt voraussichtlich 2028
  • instandhaltung.de: Neue Fähigkeiten und Ersatzteile für den Schützenpanzer Puma
  • researchgate.net: Battle Management System (BMS): An Optimization for Military Decision Makers
  • oryxspionenkop.com: Attack On Europe: Documenting Ukrainian Equipment Losses During The 2022 Russian Invasion Of Ukraine
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