Deutschland hat die EU-Ratspräsidentschaft übernommen und bereits zahlreiche hochgesteckte Ziele präsentiert. Unsere Redaktion hat die Europaabgeordneten Ska Keller (Grüne) und Özlem Demirel (Die Linke) gefragt, was ihnen dabei fehlt und was sie in den kommenden Monaten von der Bundesregierung erwarten.

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Angela Merkel hat sich viel vorgenommen. Deutschland hat am Mittwoch den Vorsitz im Rat der Europäischen Union für die kommenden sechs Monate übernommen. Das dafür von der Kanzlerin vorgestellte Programm ist so umfangreich, wie die Erwartungen hoch sind – im In- und Ausland.

Topthema ist natürlich der Kampf gegen die Coronakrise: Die Pandemie soll bezwungen und die Rezession mit einem riesigen Konjunkturprogramm abgemildert werden. Dazu gilt es, den Brexit zu bewältigen, ein neues Klimaziel zu setzen, den Dauerstreit über Migration zu lösen und obendrein noch, Europa in der Welt zu stärken.

Kritik an der Ausrichtung und Gewichtung der Pläne der Bundesregierung kommt allerdings aus der Opposition. "Das Klima kommt viel zu kurz, es läuft nur unter ferner liefen", kritisiert die Grünen-Europaabgeordnete Ska Keller im Gespräch mit unserer Redaktion. Sie zeigt sich von Merkel "sehr enttäuscht".

Keller: Bundesregierung hat sich bisher nicht als große Klimaschützerin hervorgetan

In Merkels Regierungserklärung im Bundestag habe "alles viel besser" geklungen, erklärt Keller, die zur Europawahl 2019 Spitzenkandidatin von Bündnis 90/Die Grünen war. "Aber mich überrascht das nicht", sagt Keller. Die Bundesregierung habe sich bisher weder in Brüssel noch zuhause als große Klimaschützerin hervorgetan und viele Initiativen blockiert. "Das ist eine Katastrophe, denn der Klimaschutz wartet nicht."

Keller fordert, dass das Thema im Rahmen des angekündigten EU-Wiederaufbaufonds eine "überragende Rolle" spielen muss. Während der Ratspräsidentschaft werde Deutschland viele Kompromisse aushandeln müssen, ist sich die 38-Jährige sicher. "Die Bundesrepublik ist das bevölkerungsreichste Mitgliedsland, ihre Stimme hat Gewicht."

Den von Merkel und Frankreichs Präsident Emmanuel Macron vorgestellten Deal, erstmals im großen Stil europäische Schulden zu akzeptieren, lobt Keller. "Das war ein wichtiges Signal, ein echter Einschnitt und wahrlich ein großer Imagegewinn." Nun müssten allerdings auch Veränderungen folgen. "Das Vertrauen, das wir gerade bekommen haben, sollten wir nicht unterschätzen – und nicht verspielen. Das ist eine echte Währung in künftigen Verhandlungen", glaubt sie.

Die Grünen-Politikerin ist aber skeptisch, ob die Bundesregierung die in sie gesteckten Erwartungen erfüllen kann. Ambitionierte Pläne, sei es in der Umweltpolitik oder der Eurokrise, habe man bisher immer blockiert. "Deutschland hat damals weder Solidarität noch Zusammenhalt gezeigt", sagt Keller.

Demirel: Notwendige Sozialmaßnahmen stehen hinten an

Die Linken-Europaabgeordnete Özlem Demirel sieht hingegen zwei zentrale Probleme bei dem von Merkel und Macron initiierten Wiederaufbaufonds: "Erstens weigert man sich, mit den zentralen Regeln der EU zu brechen, die die gegenwärtige Gesundheitskrise befeuert haben." Mitgliedstaaten würden weiterhin zu Privatisierungen und Kürzungen im Gesundheitssystem sowie der öffentlichen Infrastruktur angehalten, wie Demirel im Gespräch mit unserer Redaktion erläutert.

"Und zweitens wird die soziale Frage nicht in den Fokus gerückt." Mit den geplanten Milliardenbeträgen solle vor allem die globale Wettbewerbsfähigkeit der EU gestärkt werden. "Notwendige Sozialmaßnahmen, die den Menschen in Europa direkt helfen, stehen hinten an", kritisiert Demirel. Sie fordert zudem ein Ende der Austeritätspolitik, deren vehementester Befürworter Deutschland sei, wie sie sagt. "Falsche Spardiktate und Sozialkürzungen dürfen nicht die Folge der Milliardenpakete für Unternehmen sein."

Aus Demirels Sicht habe sich "Deutschland gerade von der eigenen Heuchelei befreit". "Die größte Lüge war, dass Deutschland Griechenland gerettet habe – waren es doch vielmehr die hiesigen Banken (, die gerettet wurden - Anm. d. Red.)", betont die 36-Jährige. Nun sage die Bundesregierung offen, dass es um geopolitische und wirtschaftliche Interessen gehe. Die Bundesrepublik ist das Land, das am meisten vom großen EU-Binnenmarkt profitiert – und nun leide die hiesige Wirtschaft besonders unter den eingebrochenen Exportzahlen, sagt Demirel.

EU muss mehr Flüchtlinge aufnehmen

Beide Politikerinnen sind sich darin einig, dass es eine Wende in der Flüchtlingspolitik der Europäischen Union brauche. "Die Situation an den EU-Außengrenzen ist immer schlimmer geworden. Flüchtlinge werden im Meer ausgesetzt, und Regierungen haben die Seenotrettung unter dem Vorwand des Coronavirus untersagt", sagt Grünen-Politikerin Keller. Die Entwicklung sei "katastrophal", "Menschenrechte werden in aller Öffentlichkeit gebrochen".

"Wir lassen die Menschen in den Lagern und die Länder im Stich", befindet auch Demirel. Um das Sterben im Mittelmeer zu beenden, drängt die Linken-Politikerin auf ein ziviles Seenotrettungsprogramm und die Aufnahme von mehr Menschen. Keller fordert eine Reform des Asylsystems und einen "Club der Willigen", der vorangehe.

"Wenn in Griechenland zehntausend Menschen ankommen, ist das viel für das Land – doch sehr wenig für die gesamte EU", bemerkt Keller.

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