• Von der Kandidatenkür in die Primetime: Annalena Baerbock präsentiert sich zur besten Sendezeit auf ProSieben – und legt einen kämpferischen Auftritt hin.
  • Sie inszeniert sich als Alternative zur Groko und verteilt Kritik an Erdogan, Putin und der Corona-Politik.

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Annalena Baerbock, so scheint es, kann an diesem Tag nur gewinnen. Um 11 Uhr hat Robert Habeck seine Co-Vorsitzende zur ersten Kanzlerkandidatin der Grünen ausgerufen, nach einem fast geräuschlosen Prozess, den sowohl die Kontrahenten als auch die Partei makellos überstanden haben. Und während sich zeitgleich in Berlin die Union über ihre Kandidatenfrage quasi öffentlich zerlegt, räumt ProSieben die Primetime frei, um das erste Fernsehinterview mit Baerbock zu zeigen.

Die Grünen haben mit ihrer sorgfältig inszenierten Kür einen kleinen Medienhype entfacht, Baerbock ist in den 45 Minuten bemüht, daraus eine echte Wechselstimmung zu basteln: "Es gibt so Zeiten, da muss ein neues Kapitel aufgeschlagen werden", sagt sie. Die Tage der Groko seien gezählt, sie stehe für "Erneuerung" und für eine "andere Art der Führung" - schönen Gruß an Markus Söder und Armin Laschet auch. Auch wenn Baerbock zu Beginn noch etwas steif antwortet, findet sie im Laufe des Abends die Rolle, die sie offensichtlich auch im Wahlkampf spielen will: die Alternative zum "Weiter so".

Baerbock als Kanzlerin: Investitionen statt Schuldenbremse

Wer multitaskingfähig ist, kann via Second Screen live verfolgen, wie aus der Fraktionssitzung der Union immer neue Indiskretionen dringen. Ich, ich, ich, das ist alles, was Söder und Laschet zuletzt transportiert haben, Baerbock bleibt konsequent beim "Wir" - woher ihr Selbstbewusstsein stamme, sich die Kanzlerschaft zuzutrauen, will Moderatorin Katrin Bauerfeind wissen: "Daher, dass ich es nicht allein mache."

"Schmerzhaft" sei die Entscheidung gewesen, meint Baerbock, sie sei auch nicht unbedingt die bessere Kandidatin als Robert Habeck gewesen, sondern "das beste Angebot". Wo der Unterschied ist, führt sie nicht aus. Auch wenn es sich in ihrer Version der Geschichte fast anhört, als würde Habeck sie ins Kanzleramt tragen wie Samweis seinen Freund Frodo im "Herrn der Ringe" auf den Schicksalsberg – sie muss sich jetzt profilieren. Und am Montagabend sieht es so aus, als könnte sie das auch.

Vehement spricht sie sich für einen Lockdown aus, um die steigenden Corona-Zahlen in den Griff zu bekommen – inklusive Tests auch in den Büros und Fabriken. Wenn Arbeitgeber noch immer die Testpflicht zurückweisen, sei das "unsolidarisch": "Was für Kinder in der Schule gilt, muss auch für die Arbeitswelt gelten." Für die Zeit nach Corona schweben den Grünen in vielen Bereichen ein Kurswechsel vor: Investitionspflicht statt Schuldenbremse, Co2-Steuern, Abschaffung der Sanktionen ("Die sind kontraproduktiv und würdelos") und Erhöhung des Hartz-IV-Regelsatzes bis auf 600 Euro – und natürlich, über allem, der Klimaschutz: "Wir müssen die Art und Weise, wie wir produzieren, umstellen."

Grüne Kanzlerkandidatin: "Ich habe Respekt und Demut vor dem Amt"

Baerbocks erstes großes TV-Interview ist, das wird schnell klar, ein Heimspiel für die einzige "Nicht-Boomerin" im Rennen um das Kanzleramt, wie es Bauerfeind formuliert. Neben der 38-Jährigen sitzt der 40-jährige Thilo Mischke, bekannt für seine AfD-Reportage "Rechts. Deutsch. Radikal", sein Casual-Friday-Outfit schreit laut "Jugendfernsehen" - und so klingt das Interview über lange Strecken auch: Ob Baerbock "der Arsch auf Grundeis" gehe, will Bauerfeind wissen. Baerbock ist zwar auch erst 40 Jahre alt, aber politisch erfahren genug, um eine angemessen staatstragende Antwort zu geben: "Ich habe Respekt und Demut vor dem Amt."

Nicht immer kommt Baerbock mit solchen Null-Antworten durch. Mischke konfrontiert die Spitzenkandidatin mit den Verboten von Inlandsflügen in Frankreich – wäre das ein grüner Weg für Deutschland? "Natürlich muss sich viel ändern, aber wenn es so einfach wäre ..." - "Ist das eine neue Scheu, weil Sie nicht als Verbotspartei gelten wollen?" Baerbock schlängelt sich durch, es gehe nicht darum, bessere Menschen zu machen, sondern die Regeln zu ändern. "Das klingt sanft", wirft Mischke ein. Das will Baerbock so aber auch nicht stehen lassen: "Es funktioniert nicht sanft, in zentralen Themen müssen wir Dinge ändern."

Breite Wählerschichten dafür zu begeistern, das wird Baerbocks größte Aufgabe in den nächsten sechs Monaten. Im Interview verbreitet sie Zuversicht, ihre Botschaft: Die Menschen und auch die Wirtschaft seien ohnehin schon viel weiter als die Politik.

Baerbocks Rezept für Putin oder Lukaschenko: "Härte und Dialog"

Ein weiteres Fragezeichen hinter Baerbocks Kandidatur: die fehlende Erfahrung, auch auf dem internationalen Parkett. Biden, Putin, Lukaschenko - "Um mit Oli Kahn zu fragen", frotzelt Bauerfeind, "braucht man da Eier, oder in ihrem Fall: Eierstöcke?" Baerbock lächelt, dann schaltet sie auf scharf: "Da braucht man vor allem Haltung." Ihr Rezept für solche Politiker: "Härte und Dialog".

Thilo Mischke klopft das Blatt gleich mal ab: "Ist Wladimir Putin ein Mörder", fragt er in Anspielung auf Joe Bidens "Killer"-Aussage. Der Kreml lasse mit Alexej Nawalny "gerade jemanden sterben", entgegnet Baerbock, aber Außenpolitik sei eben komplex, wichtig sei für die Bundesregierung, eine "klare Sprache" zu sprechen. "Genau, eine klare Sprache", hakt Mischke nach: "Ist er ein Mörder?" - "Das kann man von außen schlecht sagen, aber er ist für dieses Regime verantwortlich."

Etwas deutlicher wird Baerbock in Sachen "Sofa-Gate". Dass der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan die EU-Kommissionspräsidentin bei einem Besuch auf einem Sofa platzierte, sei "ein Unding". Die Düpierung von Ursula von der Leyen zeige, dass es weltweit "dieses Gehabe" gebe: "Jetzt braucht es wieder den starken Mann, in manchen Situationen den starken Führer." Auch dazu will Baerbock die Alternative sein – und zumindest im ProSieben-Studio hätte sie offenbar gute Chance auf eine Mehrheit: Zum Abschluss klatscht das Moderatoren-Duo freundlich Beifall. Es gibt schlechtere Auftakte in einen Wahlkampf.

Baerbock als Kanzlerkandidatin der Grünen nominiert

Baerbock wird die Grünen als Kanzlerkandidatin in die Bundestagswahl 2021 führen. Das gab der Grünen-Bundesvorstand im Rahmen einer Pressekonferenz am Montag bekannt.
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