Die Türkei ist vor rund drei Wochen in Syrien einmarschiert, um die von ihr als Terrororganisation angesehene Kurdenmiliz YPG zu bekämpfen. Zuvor hatten die US-Truppen einen Teilrückzug aus der Region verkündet. Als Reaktion auf den türkischen Einmarsch hat die Regierung von Präsident Baschar al-Assad eigene Truppen in die Region geschickt. Der Humanitäre Helfer Kayu Orellana berichtet über die verzweifelte Situation der Kurden in Nordsyrien, welche Folgen der Konflikt für Europa haben könnte und wie seine Organisation im Kriegschaos Leben rettet.

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Mit der Entscheidung, einen Teil der US-Truppen aus Syrien abzuziehen, hat Präsident Donald Trump Anfang Oktober das Spielfeld Assad, Putin und Erdogan überlassen. Wie reagieren die Menschen, insbesondere die mit den USA verbündeten Kurden, auf das Verhalten der Amerikaner?
Kayu Orellana: Aus unserer Sicht ist Wut, Verzweiflung und Unverständnis das, was bei der kurdischen Gemeinde in Syrien überwiegt. Andere Bevölkerungsgruppen haben hierzu sehr unterschiedliche Ansichten. Hierzu zählen sicherlich auch große Teile der christlichen Gemeinde in Syrien, die sich die Rückkehr der syrischen Zentralregierung wünschen.

Die große Mehrheit der Bevölkerung scheint sich jedoch darüber einig zu sein, dass der Angriff der Türkei und ihrer extremistischen Verbündeten eine deutliche Verschlechterung der Sicherheitslage und der humanitären Lage in Syrien bedeutet.

Der türkische Präsident Erdogan nutzt die entstandene Lücke, um eine Offensive gegen die Kurdengebiete im Norden Syriens zu beginnen. Experten rechnen damit, dass tausende Menschen die Gebiete verlassen werden. Wohin streben die Menschen? Drohen neue Flüchtlingsbewegungen in Richtung Europa?
Zuerst sind die Menschen auf der Flucht vor Gewalt und Gefangenschaft. Uns erreichen immer wieder Meldungen über Angriffe auf Zivilisten und zivile Infrastruktur. Viele Geflüchtete geben an, dass sie auf der Flucht den meisten Besitz zurücklassen mussten. Viele befürchten, dass sie, genauso wie die ehemaligen Bewohner von Afrin, nicht mehr in ihre Heimatorte zurückkehren können.

Menschen mit Familie oder Freunden in anderen Landesteilen fliehen in die Städte wie Qamishli oder Hassakeh. Andere fliehen in die improvisierten Notunterkünfte in Schulen in Hassakeh und Tal Tamer oder in die bestehenden Camps im Nordosten Syriens, wo wir die Menschen bereits unterstützen. Einige Tausend sind auch in den Nordirak geflüchtet.

Aufgrund der großen Kurdischen Diaspora in Europa und in aller Welt kann durchaus mit einer Fluchtwelle in Richtung Europa und Deutschland gerechnet werden, wenn die Lage für die Menschen weiterhin so bedrohlich bleibt.

Amnesty International wirft der Türkei Kriegsverbrechen vor, darunter Angriffe auf ein Wohnhaus, eine Bäckerei und eine Schule. Ist der Vorwurf berechtigt?
Wir können derartige Darstellungen nicht aus eigener Sicht bestätigen oder verneinen, erhalten jedoch von geflohenen Menschen fortlaufenden ähnliche Berichte. So zum Beispiel von einem Familienvater, der aus einem Dorf nahe Ras Al Ayn fliehen musste und miterleben musste wie sein Haus geplündert und sein Auto gestohlen wurde.

Seitdem die syrische Armee im Norden präsent ist, braucht jeder dort ein Visum. Was bedeutet das für die Helfer in der Region?
Die Bedingungen und die Freiräume für humanitäre Hilfe werden kleiner. Trotzdem gibt es eine Vielzahl lokaler Hilfsorganisationen und zivilgesellschaftlichen Engagements, die ohnehin die größte Last der Hilfsmaßnahmen im eigenen Land stemmen. Auf diese Kräfte zu bauen wird in Zukunft der Erfolgsschlüssel sein. Auch Help arbeitet bereits so.

Man wird sich aber fragen müssen, wie man als internationale Hilfsorganisation mit der Regierung in Damaskus umgehen will. Für Helfer bedeutet dies, dass wir uns dem Dilemma der Instrumentalisierung von Hilfe stellen müssen. Alles Dinge, die schon jetzt und früher der Fall waren, die jedoch im Syrien-Kontext besonders deutlich geworden sind.

Help sieht hier ganz klar immer seinen humanitären Auftrag: Wir unterstützen Menschen in Not unabhängig von Herkunft, Alter, Geschlecht und politischer oder religiöser Weltanschauung.

Militärisch scheint der Sieg Assads – vor allem aufgrund der russischen Unterstützung – sicher zu sein. Das Regime denkt bereits über den Wiederaufbau des völlig zerstörten Landes nach. Sollten die Hilfsorganisationen sich daran beteiligen?
Solange es Bedarfe notleidender Menschen gibt, ist die internationale humanitäre Hilfe in der Pflicht zu helfen. Leitlinien hierfür sind die humanitären Prinzipien, die Unparteilichkeit, Unabhängigkeit und Neutralität verlangen. Hilfe darf jedoch nicht zum Instrument politischer Interessen missbraucht werden.

Diese Freiheit der humanitären Hilfe stößt natürlich auf die Grenzen einer staatlichen Souveränität, die ausländische Organisationen nicht ungeprüft und unkontrolliert im eigenen Land arbeiten lassen will. Besonders im Falle von Syrien sind die Bestimmungen und Auflagen für internationale NGOs sehr engmaschig. Daher sind Bemühungen verschiedenster Akteure für die Unabhängigkeit von humanitärer Arbeit und Engagement im Wiederaufbau fortlaufend von diesem Dilemma begleitet.

Wir müssen uns aber sicherlich fragen, was in Zukunft aus der Region werden soll. Das ist aber kein Thema, welches von NGOs allein geführt werden kann, das muss vor allem von staatlichen Stellen geschehen. Je mehr wir Verarmung und Isolation zulassen, desto mehr öffnen wir Tür und Tor für extremistische Tendenzen und damit für weiteren Konflikt.

In ihrer Not haben sich die Kurden auf einen Deal mit der syrischen Regierung eingelassen. Sie will die kurdisch geführte SDF-Miliz dabei unterstützen, von der türkischen Armee und ihren verbündeten Rebellengruppen eroberte Gebiete zu "befreien". Wie groß ist das Vertrauen der Menschen in den syrischen Diktator Assad?
In Syrien gibt es eine große Zahl von Minderheiten, die nicht zur mehrheitlichen Gruppe der sunnitisch arabischen Landbevölkerung gehören. Viele dieser Minderheiten sehen die Assad Herrschaft als Garantie für das eigene Überleben.

Die Kurden Syriens sind jedoch wahrscheinlich die Minderheit mit dem geringsten Schutzstatus der bisherigen Regierungen und daher wenig erfreut über eine mögliche vollständige Machtübernahme Damaskus'. Trotzdem, die Angst vor der Türkei und dem sogenannten islamischen Staat scheint bei der großen Mehrheit der Bevölkerung stärker als die Ablehnung der einen oder anderen innersyrischen politischen Gruppe.

Daher ist, zumindest für die Kurden, die Regierung in Damaskus sicherlich das kleinere Übel. Es gibt jedoch auch sehr viele Menschen, die der Regierung loyal gegenüberstehen, trotz aller berechtigten Kritik.

Wie hat sich die humanitäre Lage durch die Offensive der türkischen und syrischen Truppen im Norden des Landes verändert? Kann man als internationale Organisation in diesem Kriegschaos überhaupt helfen?
Help kann mit eigenen Kräften und der Hilfe lokaler Partnerorganisationen die Menschen erreichen, die vor den Kampfhandlungen geflohen sind. Wir konnten zu jedem Zeitpunkt der Invasion Hilfe leisten und sind seit dem ersten Tag der Angriffe für die betroffenen Menschen aktiv.

Bislang konnten wir, neben unserem normalen Programm in der Region, 1.450 Hygienepakete in den Notunterkünften verteilen. Weitere Maßnahmen werden derzeit erarbeitet. Es gibt aber auch vereinzelte Ausnahmen, so haben etwa die Kollegen des Kurdischen roten Halbmondes gemeinsam mit den Free Burma Rangers Verletzte aus dem eingeschlossenen Serekaniye evakuiert. Viele Mitarbeiter des Halbmondes werden jedoch Ziel von Angriffen seitens der Extremisten.

Als die Türkei 2017 die syrische Stadt Afrin besetzte, berichteten Beobachter von Vertreibungen, Enteignungen und Plünderungen durch syrisch-arabische Rebellentruppen. Haben Sie seit der Offensive der Türkei Kenntnis über ähnliche Vorfälle?
Es scheint so, als würde die aktuelle Operation nach einem ähnlichen Muster verfahren. Das würde eine dauerhafte Vertreibung von mehr als 250.000 Menschen aus Ihren Heimatorten bedeuten. Eine extreme Herausforderung für die humanitären Akteure und natürlich in erster Linie eine unglaubliche Belastung für die betroffenen Menschen.

Auch ist die sogenannte freiwillige Rückkehr syrischer Flüchtlinge in der Türkei in den Nordosten Syriens aus unserer Sicht nicht nachvollziehbar. Viele der Flüchtlinge in der Türkei kommen nicht aus der Region, die nun von dem Angriff betroffen ist. Eine Ansiedlung dieser, zumeist sunnitischen Araber, ist damit keine Rückkehr, sondern eine Änderung der lokalen ethnischen Zusammensetzung und Demografie und schlichtweg eine Abschiebung von Flüchtlingen aus der Türkei und eine Vertreibung der ursprünglichen Bevölkerung.

Laut einer Studie der Hilfsorganisation CARE ist Syrien für humanitäre Helfer der tödlichste Ort der Welt. Wie schaffen Sie es, so lange motiviert zu bleiben? Wie werden Sie vor Ort mit der Situation fertig?
Unsere Kollegen wurden in der Vergangenheit so weit wie möglich auf die Sicherheitsrisiken vorbereitet. Hierfür gibt es verschiedenen Schulungen, die für humanitäre Mitarbeiter angeboten werden. Aber viele der Menschen, die für NGOs arbeiten sind Ortskräfte.

Für diese Menschen ist die Arbeit im eigenen Land und für die eigene Bevölkerung alternativlos. Probleme mit der Motivation gibt es dabei keine, sondern nur die Hoffnung, dass dieser schreckliche Konflikt irgendwann ein Ende hat.

Die humanitäre Hilfe macht es sich damit auch zur Aufgabe jedes Leben bis dahin zu erhalten und das Leid der Menschen so weit wie möglich zu lindern. Frustrierend ist jedoch, dass es nicht genügend politischen Willen zu geben scheint, der den Menschen wieder ein sicheres Zuhause gewährleisten würde.

Wie groß ist die Sorge der Menschen, dass der IS in der Region wieder erstarken könnte?
Diese Sorge besteht durchaus und ist besonders bei religiösen und ethnischen Minderheiten essenziell. Die vertriebenen Menschen berichten, dass die Methoden und Rhetorik der von der Türkei eingesetzten Milizen sie sehr an das Vorgehen des sogenannten IS erinnern.

Es gibt zahlreiche Berichte und Bildmaterial von spontanen Exekutionen und anderen Kriegsverbrechen und Gräueltaten, die von diesen Gruppen gegen Zivilisten verübt werden. Sollte die Offensive der Türkei den IS, unter welchem Namen auch immer, in Syrien wieder etablieren, müssen wir uns auf eine massive Flucht einstellen.

Das russische Verteidigungsministerium wirft den US-Truppen massiven Öldiebstahl in Syrien vor. Wie beurteilen Sie und wie beurteilen die Menschen diesen Vorwurf?
Die Menschen wissen, dass derartige Ressourcen immer schon Konfliktpunkt waren und auch weiterhin sein werden. Kritisch für die syrische Regierung ist das Ganze, da Treibstofflieferungen aus dem Iran und aus anderen Quellen immer stärker in den Fokus der USA rücken. Der vollständige Verlust von Treibstofflieferungen wäre wahrscheinlich das Ende der Regierung in Damaskus.

Kayu Orellana arbeitet als Teamleiter MENA bei "Help – Hilfe zur Selbsthilfe". Die Humanitäre Organisation mit Sitz in Bonn engagiert sich weltweit in 89 Not- und Katastrophenhilfeprojekten, darunter in Ländern wie Myanmar, Jemen, Kongo und Südsudan.
Anm. d. Red.: In einer vorigen Version des Interviews war in einer Frage an den Experten von einer "türkischen Stadt Afrin" die Rede. Dies ist falsch, gemeint ist natürlich die "syrische Stadt Afrin". Der Fehler wurde inzwischen korrigiert.
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