Die deutschen Handballer sind auch im zweiten EM-Gruppenspiel gegen Nordmazedonien nicht aufzuhalten. Nun beginnt am Dienstag gegen Frankreich zum Abschluss der Gruppenphase bereits die Hauptrunde, denn die Punkte aus dem Spiel werden wohl mitgenommen. Deshalb spricht Bundestrainer Alfred Gislason inmitten des Euphorietrubels um seine Mannschaft die Fehler offen an.

Eine Analyse
Dieser Text enthält eine Einordnung aktueller Ereignisse, in die neben Daten und Fakten auch die Einschätzungen von Andreas Reiners sowie ggf. von Expertinnen oder Experten einfließen. Informieren Sie sich über die verschiedenen journalistischen Textarten.

Plötzlich explodierte Alfred Gislason. Der oft etwas kühl und knorrig wirkende Isländer zeigte seine brodelnde Seite. Während einer Auszeit bei einer 22:17-Führung im zweiten EM-Gruppenspiel gegen Nordmazedonien in Berlin stauchte er die deutschen Handballer förmlich zusammen.

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Er war sauer, er wurde laut, gestikulierte wild. Ein Weckruf, ein Wachmacher, kaum zu verstehen angesichts des Lärmpegels in der Mercedes-Benz-Arena. Wer den 64-Jährigen bislang nur bei seinen pointierten, aber sachlichen Analysen erlebt hat, der dürfte überrascht gewesen sein, wie emotional Gislason werden kann. Wer den Bundestrainer kennt, der weiß, welche Wirkung diese Ansprachen entfalten können.

"Wir haben in der Halbzeit darüber geredet, dass wir weiter Druck aus der Abwehr machen müssen", sagte Gislason im ZDF. "Ich habe gesagt: 'Wir können so weiter laufen, aber so blöd wie heute dürfen wir es nicht machen.' Jeder, der als erster die Neunmeterlinie erreicht hat, hat geworfen", sagte Gislason, der fand, dass es die Ansage trotz der im Grunde beruhigenden Führung brauchte: "In der Phase haben wir die Nordmazedonier fast wieder aufgebaut."

Auch das dürfte den einen oder anderen Zuschauer etwas überrascht haben. Denn ja: Beim 34:25 gegen die Nordmazedonier hat Deutschland zwischenzeitlich Chancen liegen lassen, wirkte phasenweise nicht mehr ganz so konzentriert und fokussiert, war ein wenig schlampig in der Ausführung.

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Doch in Gefahr war die Torparty nie. Nach dem Auftaktsieg gegen die Schweiz setzte das DHB-Team erneut ein sportliches Ausrufezeichen. Es war ein unter dem Strich stark und sehenswert orchestrierter Auftritt, versehen mit der bei einem zweiten Turnierspiel noch üblichen Luft nach oben. Aber das ist eben die Aufgabe Gislasons: Probleme im Keim zu ersticken, das Potenzial im Laufe des Turniers zum passenden Zeitpunkt freizulegen. Denn der Bundestrainer ist in der Hinsicht ein gebranntes Kind.

Die Sorge vor den schwarzen Löchern

Er hatte vor der Heim-EM mehr als einmal die Sorge vor den "schwarzen Löchern" formuliert. Damit sind die Phasen in der zweiten Halbzeit gemeint, wenn die deutsche Mannschaft in der Vergangenheit gerne mal den Faden verloren hat. Da wurde der Gegner stark gemacht, wieder ins Spiel gebracht und die Führung aufs Spiel gesetzt.

Doch Gislasons Weckruf half. Eine Chance, das deutsche Team auch nur ansatzweise in Bedrängnis zu bringen, hatten die Nordmazedonier zu keinem Zeitpunkt.

Das lag auch daran, dass die DHB-Auswahl insgesamt einen sehr gefestigten Eindruck macht. Schon gegen die Schweiz wurden kleine Schwächen im Spiel anderweitig ausgeglichen, wurden Fehler umgehend behoben und Lösungen auch durch die Breite des Kaders gefunden. Das deutsche Team ist die EM mit den Testspielen inklusive angegangen. Heißt: Die Partien gegen Portugal im Vorfeld werden mitgezählt, "das war jetzt das vierte Spiel" rechnete Gislason vor. "Es ist von Spiel zu Spiel besser geworden. Wir sind stabiler geworden. Jetzt müssen wir das so beibehalten."

Sich von der Euphoriewelle tragen lassen

Trotzdem war er nicht restlos zufrieden. "Die zweite Halbzeit war sehr gut, in der ersten Halbzeit hatten wir aber viele Fehlwürfe und zu viele Chancen liegen lassen", meinte der Coach: "Da war zwar schon vieles gut - aber eigentlich nicht gut genug."

Auch hier: Der Kontrast mag speziell wirken. Gislason lobte nicht nur, sondern äußerte auch Kritik, weil das natürlich sein Job ist. Unterdessen feierte die immer noch kochende Halle in der Hauptstadt im Hintergrund die Handballer, die sich dank ihrer offensiven Stärke und ihrem Tempo weiter von der Euphoriewelle tragen lassen können.

Gefeiert wurde vor allem Spielmacher Juri Knorr, der nicht nur mit zehn Treffern begeisterte, sondern auch sehenswert die Fäden zog. "Es ist Wahnsinn, was Handball-Deutschland hier abreißt, erst in Düsseldorf, jetzt Berlin, das sind Emotionen", sagte Jannik Kohlbacher.

Was auch dem Bundestrainer Respekt abverlangte, war die sogenannte zweite Garde. Mit den Jungs aus der zweiten Reihe war Gislason "sehr zufrieden. Es war auch unser Ziel, die Belastung zu verteilen. Diejenigen, die von der Bank kommen, haben alle ihre Leistung gebracht. Dieser Trend, dass die zweite Garde immer besser reinwächst, ist natürlich sehr schön."

Stellvertretend dafür stand Torhüter David Späth, der den Auftaktspiel-Helden Andreas Wolff recht früh ersetzte – und sich in Halbzeit zwei in den Mittelpunkt parierte. Immer wieder trieb er die Halle mit emotionalen "Ausrastern" an.

"Wer mich kennt, der weiß, dass ich ein sehr emotionaler Torhüter bin", sagte Späth. "Ich habe mich gefreut, dass ich gut ins Spiel gefunden habe, dem Team helfen konnte, auch in der schwierigen Phase. Ich bin einfach happy und habe es dann zum Ausdruck gebracht." Er bewies, dass sich Gislason auf beide Keeper verlassen kann. Auch menschlich, denn während Späth sich in die Herzen des Publikums jubelte, feierte am Rand Wolff nicht weniger bedingungslos mit.

Geht die Party weiter?

Geht die Party am Dienstag gegen Frankreich weiter? "Wenn wir unser Spiel auf die Platte bringen, die Fehler minimieren, dann ist es für jedes Team schwer, uns zu schlagen. Wir müssen jetzt kontinuierlich weitermachen. Frankreich wird ein sehr, sehr harter Brocken", meinte Späth.

Was die deutsche Mannschaft vorhat, betonte Kohlbacher: einen Sieg gegen den Rekordweltmeister. "Das ist unser Ziel. Wir wollen jedes Spiel gewinnen und das gehört dazu."

Klar ist: Gislason hat Frankreich rauf und runter analysiert. Überraschen kann der Rekordweltmeister ihn aber doch, denn mit einem 26:26 gegen die Schweiz hatte selbst er nicht gerechnet.

Deutschland steht mit vier Punkten in der Hauptrunde, Frankreich hat drei Zähler. Normalerweise beginnt mit diesem letzten Spiel der Gruppenphase bereits die Hauptrunde, denn Punkte gegen ebenfalls qualifizierte Teams werden mitgenommen. Theoretisch könnten die Franzosen aber sogar noch ausscheiden, bei einer Pleite gegen Deutschland und einem sehr hohen Sieg der Schweizer.

Gislason schaut aber nur auf die eigene Aufgabe, denn die wird knifflig genug. Fraglos wird der Olympiasieger der erste richtige Gradmesser. Sein Glaube an einen Coup sei groß, sagte er. "Sie haben aber eine wahnsinnig breite und eine deutlich erfahrenere Mannschaft als wir. Wir hoffen, dass wir mit dieser tollen Halle im Rücken ein großes Spiel machen können", so Gislason.

Doch er weiß: "Auch wenn wir jetzt die Tabelle führen, sind die Franzosen klarer Favorit." Gut möglich also, dass sein Team deshalb wieder einen Weckruf braucht.

Verwendete Quelle

  • TV-Übertragung ZDF
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