• Nach den Viertelfinalspielen sehen sich die Unparteiischen teilweise vernichtenden Urteilen ausgesetzt.
  • In einer Partie entglitt dem Referee tatsächlich die Kontrolle, weil er zu nachsichtig war.
  • Aber in den anderen Fällen sind die negativen Bewertungen deutlich überzogen.
Eine Analyse
Dieser Text enthält eine Einordnung aktueller Ereignisse, in die neben Daten und Fakten auch die Einschätzungen von Alex Feuerherdt sowie ggf. von Expertinnen oder Experten einfließen. Informieren Sie sich über die verschiedenen journalistischen Textarten.

Wenn man den alten Merksatz zugrunde legt, nach dem der beste Schiedsrichter derjenige ist, an den man sich nach dem Spiel kaum noch erinnert und über den nicht mehr viel gesprochen wird, dann hat von den Unparteiischen in den Viertelfinalspielen bei der WM in Katar nur Michael Oliver eine gute Leistung gezeigt. Der Engländer leitete die Partie zwischen Brasilien und Kroatien, das die Kroaten nach Elfmeterschießen gewannen, und war anschließend überhaupt kein Gesprächsthema, auch nicht bei den Verlierern.

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Seine Kollegen hingegen standen nach den anderen drei Begegnungen in der Kritik. Mit Antonio Mateu Lahoz waren selbst die Argentinier unzufrieden, obwohl sie ihr Spiel gegen die Niederlande, ebenfalls nach Elfmeterschießen, gewonnen hatten. Torhüter Emiliano Martínez bezeichnete den Spanier dennoch als "mit Abstand schlechtesten Schiedsrichter der Weltmeisterschaft". Lionel Messi sagte: "Sie können nicht einen Referee in einem so wichtigen Spiel aufbieten, wenn er den Anforderungen nicht gerecht wird."

Harte Kritik an den Referees nach drei Viertelfinalspielen

Die portugiesischen Spieler Pepe und Bruno Fernandes wiederum fanden es nach der Niederlage ihres Teams gegen Marokko (0:1) "inakzeptabel" und "sehr merkwürdig", dass mit Facundo Tello aus Argentinien ein Schiedsrichter aus einem Land, das selbst noch im Turnier ist, diese Begegnung pfiff. Nach ihrem Dafürhalten ließ Tello bei den Marokkanern zu viel durchgehen und bemaß die Nachspielzeit zu gering. Der portugiesische Trainer Fernando Santos mochte sich allerdings nicht anschließen. "Wir hätten mehr tun können, das haben wir nicht geschafft, dafür sollten wir nicht den Schiedsrichter verantwortlich machen", sagte er.

Aus England kamen derweil erboste Kommentare zur Leistung von Wilton Sampaio in der Partie der "Three Lions" gegen Frankreich (1:2). "Sehr schlecht" fand etwa Verteidiger Harry Maguire den brasilianischen Referee, für "nicht auf der Höhe" hielt ihn Jude Bellingham. Auch Gary Neville, früher selbst englischer Nationalspieler und inzwischen als Experte für den Sender Sky tätig, zürnte: Sampaio sei "ein Witz von einem Schiedsrichter". Cheftrainer Gareth Southgate dagegen meinte: "Ich denke nicht, dass man über den Referee sprechen sollte – vor allem nicht, wenn man verloren hat."

Waren die kritisierten Unparteiischen wirklich so miserabel? Oder sind manche Kritiker mit ihren Äußerungen schlicht über das Ziel hinausgeschossen?

Mateu Lahoz verlor am Ende die Kontrolle

Antonio Mateu Lahoz verlor im Laufe der Begegnung zwischen den Niederlanden und Argentinien tatsächlich völlig den Faden. Der spanische Referee hatte zuvor im Turnier die Spiele Katar – Senegal (1:3) und Iran – USA (0:1) exzellent über die Bühne gebracht, auch dank seiner kommunikativen Art, die manchmal polarisiert. Das extrem intensive, sehr schwer zu leitende Viertelfinalspiel hatte er ebenfalls lange Zeit im Griff – bis er in der 89. Minute viel zu nachsichtig agierte und anschließend zusehends die Kontrolle verlor.

Passiert war dies: Eine Minute vor dem Ablauf der regulären Spielzeit holte Leandro Paredes den Niederländer Nathan Aké in der Nähe der Seitenlinie mit einem rüden Foul von den Beinen, außerdem drosch er den Ball nach dem Pfiff von Mateu Lahoz gezielt in die Richtung der niederländischen Bank. Das löste eine riesige Rudelbildung aus, bei der Virgil van Dijk einen langen Anlauf nahm und Paredes mit der Brust wuchtig zu Boden stieß.

Als sich die Gemüter halbwegs wieder beruhigt hatten, verwarnte der Unparteiische den Argentinier lediglich, obwohl dieser nach dem gelbwürdigen Foul für seine anschließende Aktion gegen die Bank der Niederländer zwingend mindestens Gelb-Rot hätte sehen müssen, eigentlich sogar die Rote Karte. Van Dijk kam erstaunlicherweise gänzlich ungeschoren davon, obwohl sein Einsatz gegen Paredes eine Tätlichkeit darstellte und ebenfalls unbedingt mit einem Feldverweis hätte geahndet werden müssen.

Die Spieler nutzten die Nachsicht hemmungslos aus

Zwar ist der FIFA bekanntermaßen sehr daran gelegen, dass Hinausstellungen nur im Notfall erfolgen – die Unparteiischen sind gehalten, ihren diesbezüglichen Ermessensspielraum so weit es geht auszureizen, um das Spiel mit elf gegen elf zu Ende zu führen. Doch ein solcher "Notfall" war hier zweifellos gegeben, denn die Eruption der Emotionen wirkte wie ein Fanal. Mateu Lahoz ließ in dieser Situation die nötige Konsequenz vermissen und bekam die Partie danach nicht mehr eingefangen. Die Spieler spürten, dass sie keinen Feldverweis zu befürchten hatten, und nutzten das nahezu hemmungslos aus.

Der Schiedsrichter versuchte zwar noch, das Spiel mit zahleichen Gelben Karten zu beruhigen, doch damit erzielte er keinerlei Wirkung mehr – zumal alle wussten, dass die Verwarnungen nach dem Viertelfinale gestrichen werden. Am Ende stand ein neuer WM-Rekord: Es gab sage und schreibe siebzehn Gelbe Karten, davon zwei gegen argentinische Teamoffizielle, und nach dem Ende des Elfmeterschießens schließlich doch noch ein bedeutungsloses Gelb-Rot gegen Denzel Dumfries.

Die portugiesische Kritik am Schiedsrichter ist unberechtigt

Anders lagen die Dinge in der Partie zwischen Marokko und Portugal. Referee Facundo Tello amtierte lange Zeit angemessen großzügig bei der Zweikampfbewertung und den persönlichen Strafen, zog die Zügel aber ab der 70. Minute erkennbar an, als die Begegnung in die Schlussphase ging und an Intensität noch einmal zulegte. Dieser Linie blieb der Unparteiische bis zum Ende treu. In der Nachspielzeit, die mit acht Minuten durchaus nachvollziehbar bemessen war, stellte er den Marokkaner Walid Cheddira nach zwei rücksichtslosen Fouls mit Gelb-Rot vom Feld.

Dass Tello marokkanische Härten zu häufig ungeahndet ließ, wie Pepe und Bruno Fernandes meinten, ist ein ungerechtfertigtes Urteil. Auch Portugals Chefcoach Fernando Santos fand lediglich, der Schiedsrichter hätte zwar "in einigen Situationen Foul pfeifen können", aber allgemein sei er nicht der Ansicht, dass der Referee gegenüber den Marokkanern zu nachsichtig war. Facundo Tello bot insgesamt eine gute Leistung, die negativen Äußerungen der portugiesischen Spieler über ihn dürften eher ihrer Enttäuschung über das Ausscheiden geschuldet gewesen sein.

Kein klarer Fehler des Referees vor Frankreichs Führungstor

Auch Schiedsrichter Wilton Sampaio wurde härter kritisiert, als es angemessen war. Die Engländer warfen ihm unter anderem vor, den Einsatz des französischen Verteidigers Dayot Upamecano gegen Bukayo Saka in der 16. Minute vor dem ersten Treffer der Franzosen nicht als Foulspiel bewertet zu haben. Tatsächlich gab es in diesem Zweikampf einen leichten Kontakt von Upamecano an Sakas linkem Fuß im Zuge der Balleroberung, den man als regelwidrig betrachten kann, aber nicht unbedingt muss. Danach vergingen 27 Sekunden, ehe Aurélien Tchouaméni das 1:0 für Frankreich erzielte.

Dass der VAR hier nicht eingriff und kein On-Field-Review empfahl, war zumindest vertretbar, weil keine klare und offensichtliche Fehlentscheidung vorlag. Dabei mag es auch eine Rolle gespielt haben, dass anschließend fast eine halbe Minute verging, bis das Tor fiel. Zwar war die Angriffsphase der Franzosen, die mit dem Ballgewinn durch Upamecano begann, in dieser Zeit nicht unterbrochen, eine Intervention des Video-Assistenten wäre damit laut Protokoll möglich gewesen. Aber den VAR mag die Kombination aus einem nicht ganz eindeutigen Verstoß im Zweikampf und dem langen Zeitraum bis zum Tor davon abgehalten haben, Sampaio ein On-Field-Review zu empfehlen.

Zwei berechtigte Strafstöße für England

Die "Three Lions" und Experten, die es mit ihnen halten, rügten zudem, dass es nach einem Foulspiel von Upamecano an Harry Kane in der 25. Minute keinen Strafstoß für England gab. Tatsächlich hatte der Referee diesen Zweikampf falsch bewertet, denn es lag ein Vergehen vor. Dass es dennoch auch in diesem Fall keinen VAR-Eingriff gab, lag daran, dass der strafwürdige Kontakt allem Anschein nach außerhalb des Strafraums stattgefunden hatte. Zumindest belegten die Fernsehbilder nicht unzweifelhaft das Gegenteil. Da somit kein Elfmeter in Betracht kam, konnte der VAR auch nicht intervenieren.

In der 52. und 82. Minute dagegen sprach der Unparteiische den Engländern jeweils einen Strafstoß zu, beim zweiten davon nach einem Eingriff des VAR und dem anschließenden On-Field-Review. Beide Entscheidungen waren vollauf berechtigt. Dass Theo Hernández für sein Foulspiel gegen Mason Mount, das zum zweiten Elfmeter führte, nicht die Rote Karte bekam, ging dabei ebenfalls in Ordnung. Denn weil Mount keine Kontrolle über den Ball hatte und es auch fraglich war, ob er sie ohne das Foul erlangt hätte, war es angemessen, nicht von einer "Notbremse" auszugehen.

Wer pfeift das WM-Finale?

Insgesamt hatte Wilton Sampaio eine gute Kontrolle über das schnelle und intensive Spiel, entscheidende Fehler unterliefen ihm nicht. Vor dem ersten Strafstoß ließ er zudem nach einer strafbaren Abseitsstellung der Franzosen gut den Vorteil laufen, daraus resultierte schließlich die Szene, die zum Elfmeter führte. Zwar traf der Unparteiische bei der Zweikampfbewertung nicht immer die richtige Entscheidung, doch das rechtfertigte nicht die teilweise vernichtenden Urteile aus dem englischen Lager.

Bleibt die Frage, wer der Schiedsrichter des WM-Finales sein wird. Von den ursprünglich 36 Referees sind noch zwölf in Katar, die Halbfinalspiele werden von Daniele Orsato aus Italien (Argentinien – Kroatien) und César Ramos aus Mexiko (Frankreich – Marokko) geleitet. Es ist unwahrscheinlich, dass einer von diesen beiden auch das Endspiel bekommt. Der Favoritenkreis dürfte damit aus Szymon Marciniak (Polen), Anthony Taylor (England), Danny Makkelie (Niederlande) und Ismail Elfath (USA) bestehen. Auch für die Unparteiischen bleibt es also spannend.

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