Bei den Länderspielen am Samstag gegen Japan und Dienstag gegen Frankreich kämpft der Bundestrainer um seinen Job. An der Misere ist Hansi Flick nicht alleine schuld.

Eine Kolumne
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Er tigert durch den Besprechungsraum, als wollte er ausbrechen, er wechselt ständig das Standbein, die Position, die Perspektive. Er schreit herum, immer und immer wieder, als wüsste er: Niemand hört seine Hilferufe. Die Kamera, die auf ihn allein gerichtet ist, entlässt ihn nicht aus ihren Fängen und dokumentiert die Verzweiflung in seinem Gesicht, Sekunde für Sekunde. Wir sehen: einen Mann, der keinen Ausweg kennt. Er ruft: "Das darf doch nicht wahr sein!"

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Mit jeder Sequenz, die Amazon in der neuen WM-Dokumentation liefert, wächst die Einsicht: Bundestrainer Hansi Flick ist mit seinem Latein am Ende. Er erreicht die Spieler nicht. Alle Versuche von Kommunikation: erstickt von Besserwisserei, Missverständnissen, Irrglauben. Im Verlauf der drei Vorrundenspiele entzweit sich der gemeinsame Weg, als Lösungen benötigt werden. Die Deutschen sehen nur das Ergebnis: 1:2 gegen Japan, 1:1 gegen Spanien, 4:2 gegen Costa Rica, WM-Aus.

Vom Auftritt seiner Spieler im Winter, als die Nationalmannschaft ihre zweite WM-Blamage in Folge erlebte, hat sich Hansi Flick nicht mehr erholt. Schlimmer noch: Der Mann, der ihm den Rücken frei halten sollte, DFB-Direktor Oliver Bierhoff, fehlt inzwischen. Die Öffentlichkeit hat ihr Urteil längst gefällt: Auch der Bundestrainer muss weg. Die Länderspiele am Samstag gegen Japan und Dienstag gegen Frankreich sind wahrscheinlich Warteschleifen fürs Unausweichliche.

Von den fünf Länderspielen seit jener Katar-WM hat Hansi Flick nur das erste gewonnen: 2:0 gegen Peru. Es folgten die Niederlagen gegen Belgien (2:3), Polen (0:1) und Kolumbien (0:2), zwischendurch gab's ein schmeichelhaftes 3:3 gegen die Ukraine. Die Heim-EM in neun Monaten wird eine schwere Geburt: Die Mannschaft hat kein Gerüst, der Trainer keinen Plan und DFB-Präsident Bernd Neuendorf macht auf Scholz - er ist nicht wahrnehmbar und kein Geburtshelfer.

Der Neustart erschöpft sich bislang in der Ernennung von Ilkay Gündogan zum neuen DFB-Kapitän. Das ist erstens gut und zweitens überfällig, weil er zurzeit der beste deutsche Fußballer ist und (mit Manchester City) die Champions League gewonnen hat. Er ist aber auch derjenige, den Hansi Flick nicht durchgehend bei den drei WM-Spielen auf dem Rasen haben wollte. Er wechselt ihn jedes Mal nach gut einer Stunde aus. Bedingungsloses Vertrauen sieht anders aus.

Hansi Flick nutzt es wenig, dass er mit Bayern München 2020 eine historische Leistung vollbrachte und sechs Titel holte. Die Trainerfrage beantworten beim DFB Vizepräsident Hans-Joachim "Aki" Watzke und Sportchef Rudi Völler. Ihre Aufgabenstellung ist eine ganz andere: Die Nationalmannschaft soll bei der ersten Europameisterschaft in Deutschland seit 1988 eine Euphorie entfachen, die einen Boom im deutschen Fußball, folglich in der Bundesliga bewirkt.

Ist Hansi Flick dafür der richtige Bundestrainer? Sein Vor-Vorgänger Jürgen Klinsmann hat die Euphoriewelle 2006 bei der Heim-WM ausgelöst und die Nation in Schwarz-Rot-Gold erweckt. Was oftmals vergessen wird: Derselbe Klinsi, der schließlich WM-Dritter wurde, stand Wochen vor dem Sommermärchen zur Disposition. Ein 1:4 in Italien machte die DFB-Führung um Franz Beckenbauer nervös. Es wurde an Szenarien gebastelt, wie eine WM ohne Klinsmann liefe.

Am Ende zahlte sich Beharrlichkeit aus. Die Geschichte ist eh auf Hansi Flicks Seite: Noch nie hat der Verband zwischen zwei Turnieren den Bundestrainer ausgetauscht. Welche Alternative gibt es denn auch? Wohl keine, die mehr Erfolg als unter Flick garantieren kann. Denn auch das entlarvt die Amazon-Doku: Es sind ja immer noch die Spieler, die ihre Leistung auf dem Platz zeigen müssen, und wenn die hadern, kann man als Bundestrainer schon verzweifeln.

Ein Bundestrainer ist immer ein Jongleur von Interessen. Einerseits muss er zusehen, dass seine Mannschaft mit den besten deutschen Spielern funktioniert und notfalls erzieherische Maßnahmen ergreifen (keine Nominierung), damit die Heim-EM die erhoffte Stärke erfährt. Andererseits beanspruchen die Bundesliga-Klubs Mitspracherecht bei allen wichtigen Entscheidungen – zum Schutz ihrer teuer bezahlten Spieler. Und nicht immer zum Wohl der DFB-Auswahl.

Hansi Flick möchte zum Beispiel Mitte Oktober in den Vereinigten Staaten gegen die USA (14. Oktober) und Mexiko (18. Oktober) testen. So eine Tour in Übersee ist gut fürs Gruppengefühl und gibt ihm die Gelegenheit zur intensiven Trainingsarbeit inklusive Charakterbewertung. Dagegen läuft Borussia Dortmund Sturm – ausgerechnet der Verein von DFB-Vizepräsident Watzke. Das Klagelied: Am Tag nach der Rückkehr spielt der BVB zu Hause gegen Werder Bremen (20. Oktober).

Der Bundestrainer kann oder darf nicht mal Spieler wie Niklas Süle zu einer Zwangspause verdonnern, weil die Fitness nicht stimmt, ohne dass die Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit offenkundig wird: Der Spieler selbst, bestärkt aus dem Verein, widersprach Hansi Flicks Begründung öffentlich. Zu anderen Zeiten hätte so ein Affront das Ende seiner DFB-Karriere bedeutet. Flick aber muss schmollend nicken: Er hat keine besseren Spieler.

Er muss sogar mit Vorhaltungen leben, wenn er Nationalspieler wie zuletzt Leon Goretzka nicht nominiert. Seine Position ist geschwächt, weil die Ergebnisse - siehe oben - die Erwartungen nicht erfüllen. Man darf ihn kritisieren, logisch, und vielleicht sogar nächste Woche fortschicken. Es gibt gute Gründe dafür. Zur Gesamtsituation gehört aber auch die faire Bewertung, dass Hansi Flick nicht alleine schuld an der Misere des deutschen Fußballs ist.

Verwendete Quellen:

  • Fever Pit´ch Podcast - Flickdämmerung: Der Fluch der Graugänse
  • Fever Pit´ch: Was macht eigentlich... Rudi Völler?
  • Spiegel.de: Klinsmann drohte bei "Sommermärchen" Rauswurf
  • Ruhr Nachrichten: BVB-Profi Niklas Süle nach Flick-Kritik zurück beim DFB „Kein Platz, um zu schmollen“
  • Spox.com: Kritik an Hansi Flick! FC-Bayern-Präsident Herbert Hainer kann Nicht-Nominierung von Leon Goretzka "nicht verstehen"

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