Zwei Jahre ist Philipp Lahms Rücktritt aus der Nationalmannschaft nun schon her und trotzdem hat Joachim Löw noch immer nicht den idealen Nachfolger gefunden. Das entstandene Vakuum müssen bei der EM - Auftakt ist heute Abend gegen die Ukraine - andere füllen - aber das wird schwer genug.

Mehr News zur Fußball-EM

Es soll tatsächlich noch einen kurzen Moment des Zweifels gegeben haben. Im Winter war das, einige Medienvertreter wollten von Philipp Lahm wissen, ob er sich ein Comeback in der Nationalmannschaft vorstellen könnte.

"Die Mannschaft ist wieder durchmarschiert in der Qualifikation, dann kann man nicht sagen als Spieler: 'Jetzt komme ich wieder zurück, um das Turnier zu spielen.' So bin ich nicht", entgegnete Lahm damals und damit war das Thema dann auch offiziell durch. Selbst einen möglichen Einsatz bei Olympia lehnte Lahm aus denselben Gründen ab.

Nun hat die deutsche Nationalmannschaft die Qualifikation zur Europameisterschaft auch ohne Lahm geschafft, trotz einiger wackeliger Momente letztlich auch einigermaßen souverän. In den Stunden nach dem WM-Triumph von Rio hatte der Kapitän seinem Bundestrainer mitgeteilt, dass er und die Mannschaft ab sofort ohne ihn auskommen müssten.

Schwierigkeiten in der Ausbildung

Philipp Lahm war nicht nur der Kapitän dieser Mannschaft - er war auch ihr mit Abstand wichtigster Spieler. Und dabei war es im Prinzip unerheblich, auf welcher der vielen Positionen Lahm seinen Dienst verrichtete. In zehn Jahren und 113 Spielen im Nationaltrikot wurde Lahm zum besten Außenverteidiger der Welt oder wahlweise zu einem der besten Mittelfeldspieler der Welt. Zur Identifikationsfigur, zum Anführer, zum Weltmeister.

Spielplan der Fußball-EM 2016 in Frankreich

Fast zwei Jahre ist sein Rücktritt nun schon her. Eigentlich genug Zeit, um einen potenziellen Nachfolger zu finden und aufzubauen. Sollte man meinen. Dem Deutschen Fußball-Bund ist das aber nicht gelungen und so geht Joachim Löw nun erneut in ein großes Turnier mit dieser einen großen Baustelle auf der rechten Defensivseite.

Löw wird einen gelernten Innenverteidiger, vermutlich Benedikt Höwedes aufbieten müssen oder einen der gelernten defensiven Mittelfeldspieler Joshua Kimmich oder Emre Can. In den letzten Jahren sei auf der Position der Außenverteidiger nicht nachhaltig ausgebildet worden, musste selbst Sportdirektor Hansi Flick zugeben.

Zu früh würden talentierte Spieler ins Zentrum verfrachtet, um sie universeller auszubilden. Und dabei würden eventuell hochbegabten Außenbahnspielern ihre Vorzüge abtrainiert. Mit diesem Missstand muss der DFB nun schon seit geraumer Zeit leben. Bei der EM, dem ersten Turnier seit 2004 ohne Philipp Lahm im Kader, könnte die Problematik eine ganz neue Qualität bekommen.

Wer ersetzt Lahm als Anführer?

Die entstandene Lücke ist enorm. Lahm war nicht nur auf dem Feld derjenige, der vorneweg ging und absolut zuverlässig seinen Job erledigte. Er war auch eine Vertrauensperson für seine Mitspieler und das Trainerteam, ein Bindeglied und unglaublich wichtiger integrativer Faktor.

Er sei der intelligenteste Spieler, mit dem er je zusammengearbeitet habe, behauptete Pep Guardiola und stellte ganz am Ende seiner Amtszeit die Frage in den Raum, warum eigentlich Lahm nie ernsthaft als Spieler der Saison vorgeschlagen wird.

Kandidaten für seine Nachfolge im DFB-Team gibt es einige. Bastian Schweinsteiger gilt als Kapitän und mit seiner Vita als erste Option, das Vakuum zu füllen. Aber Schweinsteiger reiste mal wieder angeschlagen und nicht auf der Höhe seines Schaffens zu einem großen Turnier an. Vermutlich wird der Routinier in den ersten Spielen kaum über einige Kurzeinsätze hinauskommen.

Sami Khedira bringt vieles von dem mit, was verlangt wird. Khedira marschiert auf dem Feld vorneweg, er hat reichlich Erfahrung und ist ein Sprachrohr Löws in die Mannschaft hinein. Aber er muss in Abwesenheit von Lahm und vermutlich über längere Strecken auch Schweinsteiger nun erst zeigen, dass er in diese Rolle schlüpfen kann. Zuzutrauen ist es ihm allemal.

Ebenso wie Toni Kroos. Der hat sich bei Real Madrid nochmal enorm weiterentwickelt und war in den letzten beiden Jahren seit dem WM-Titel der konstanteste deutsche Mittelfeldspieler überhaupt. Qualitativ ist das deutsche defensive Mittelfeld auch ohne Lahm hervorragend besetzt - jetzt müssen die Spieler aber auch zeigen, dass sie eine Mannschaft anleiten und anführen können. Khedira und Kroos müssen ihre Reife unter Beweis stellen.

Kimmich dürfte gute Chancen haben

Was bleibt, ist das fußballerische Problem auf der rechten Abwehrseite. Löw bleibt die Variante mit einer Dreierkette, um den Engpass elegant zu umgehen. Allerdings dürfte die in den Gedanken des Bundestrainers eher eine untergeordnete Rolle spielen. Wahrscheinlicher ist das erprobte und bewährte 4-2-3-1-Grundsystem - und im Laufe des Turniers mit Kimmich als "Lahm-Ersatz".

Sechs verschiedene Spieler (Kevin Großkreutz, Shkodran Mustafi, Matthias Ginter, Sebastian Rudy, Emre Can und Antonio Rüdiger) testete Löw seit Lahms Rücktritt rechts hinten. Keiner konnte sich durchsetzen. In den ersten Spielen wird Löw sehr wahrscheinlich eine konservative Lösung wählen, mit Mustafi in der Innenverteidigung und Höwedes rechts in der Viererkette.

Kimmich bildet dazu die spielerisch deutlich kreativere Variante, mit mehr Offensivdrang und dieser speziellen Lahm-Fähigkeit, sich auch unter großem Gegnerdruck noch geschickt aus kniffligen Situation rausdrehen zu können. Das konnten und können alle anderen nicht auf diesem Niveau. Joshua Kimmich ist Löws Trumpf in der Hinterhand für die rechte Abwehrseite.

Das wird dem Spieler womöglich nicht uneingeschränkt gefallen, schließlich sieht sich Kimmich eher im defensiven Mittelfeld beheimatet - oder auf der Acht. So wie Philipp Lahm auch. Das Weltklasseformat hat sich der aber erst auf den Flügeln erarbeitet. Vielleicht wäre das auch eine Option für Joshua Kimmich.

JTI zertifiziert JTI zertifiziert

"So arbeitet die Redaktion" informiert Sie, wann und worüber wir berichten, wie wir mit Fehlern umgehen und woher unsere Inhalte stammen. Bei der Berichterstattung halten wir uns an die Richtlinien der Journalism Trust Initiative.