Thomas Tuchel gab in einem Interview Einblicke in seine Gefühlslage und kritisierte sehr offen, dass in Deutschland viel schlechtgeredet wird. Auch er selber habe in England mehr Wertschätzung erfahren als nun in Deutschland.

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Thomas Tuchel hat in drei verschiedenen Ländern gearbeitet. Er trainierte in Frankreich Paris Saint-Germain und in England den FC Chelsea, ehe er im März des vergangenen Jahres nach Deutschland zurückkehrte und den FC Bayern München übernahm. In einem Interview mit "ESPN" ließ er nun durchblicken, was ihn an der deutschen Mentalität stört.

Darauf angesprochen, dass selbst nach Siegen des FC Bayern in der Öffentlichkeit vieles schlechtgeredet wird, antwortete er: "Das ist eine deutsche Sache. Da ich fünf Jahre nicht in Deutschland gewesen bin, kommt mir diese Mentalität sehr deutsch vor. Dann bin ich manchmal überrascht. Die positive Stimmung, die man in England selbst als Favorit nach einem Sieg hat, lässt einen höherleben als hier."

In Deutschland schaut man auf das "halbleere Glas"

Laut Tuchel sei es eine deutsche Eigenschaft, immer nach "ein, zwei Dingen zu suchen", die nicht gut gewesen sind. "Man muss schauen, dass man sich nicht zu sehr darauf einlässt. Ansonsten schaut man immer nur auf das halbleere Glas. Und das hilft niemandem. Das ist die Umgebung und die Kultur, in der sich der Club befindet. Jede Kultur ist ein bisschen anders. In Paris ist es anders als in London und hier ist es noch einmal ganz anders", erklärte Tuchel.

Dies hänge beim FC Bayern München allerdings auch mit den vielen Erfolgen zusammen. "Wenn man ständig Meister wird, kommt man an einen Punkt, an dem das normal wird. Aber das ist kein guter Ansatz, um besser zu werden. Manchmal ist es schwierig, das Feuer in einem ständig neu zu entfachen. Denn wenn du es schaffst (Meister zu werden, Anm.d.Red.), ist es normal. Aber wenn du es nicht schaffst, ist es die größte Überraschung der Welt. Das ist in der Wahrnehmung ein bisschen unfair. Aber so ist das eben."

Manuel Neuer wurde schon oft abgeschrieben – laut Tuchel ist das typisch Deutsch

Dies zeige sich auch beim Umgang mit einigen Spielern. Als Tuchel darauf angesprochen wurde, dass der Torwart Manuel Neuer nach Verletzungen in der Öffentlichkeit oft schon abgeschrieben wurde, antwortete der Trainer: "Ja, das ist sehr seltsam. Vielleicht ist es einfach ein bisschen Deutsch, dies immer zu machen."

Auch er als Trainer habe festgestellt, dass ihm in Deutschland weniger Wertschätzung widerfährt als zum Beispiel in England. "Ich glaube, dass wir in Deutschland sehr kritisch miteinander umgehen. Besonders mit Spielern und Trainern, nicht nur mit mir", erklärte er. "Ich habe in England mehr Wertschätzung gespürt, ja."

Tuchel fällt es schwer, Thomas Müller auf die Bank zu setzen

Tuchel sprach in dem Interview allerdings nicht nur über die deutsche Mentalität, sondern auch über den Umgang mit seinen Spielern. Eine Vereins-Ikone wie Thomas Müller auf die Bank zu setzen, sei für Tuchel "schwer, weil ich verstehe, wie groß es für den Verein und für die Fans ist, dass Spieler wie Thomas spielen, dass solche Spieler im Verein sind und den Club zu etwas Besonderem machen."

Thomas Müller sei "einer der herausragenden Jungs in der Geschichte von Bayern München. Er hat alles gewonnen. Es ist schwer, ihm vielleicht Woche für Woche zu sagen, dass er nicht von Beginn an spielt."

Tuchel lobte die Mentalität des 34-Jährigen: "Er trainiert wie ein junger Spieler. Die Einstellung, mit der er trainiert, ist die eines jungen Spielers. Er hat natürlich nicht mehr den Körper und die Geschwindigkeit eines jungen Spielers, aber die Einstellung und die Denkweise. Es ist schön zu sehen, dass er bei jedem Training voll dabei ist, auch wenn er am nächsten Tag nicht startet." Der Trainer würde daher niemals daran zweifeln, "was für eine Legende er ist."

Tuchel gibt zu, gegenüber Mathys Tel "unfair" zu sein

Schwierig ist die Situation auch für den 18-jährigen Stürmer Mathys Tel, der in der laufenden Bundesliga-Saison noch kein einziges Mal in der Startelf stand, weil der Superstar Harry Kane auf dieser Position als Stammspieler gesetzt ist. "Ich selber halte es für unfair ihm gegenüber, dass er keine Chance bekommt, von Anfang an zu spielen. Wir haben ihn von der Bank gebracht, weil er von der Bank einen so großen Einfluss hat und viele Spiele für uns entschieden hat."

Allerdings hätte auch Tel in der laufenden Saison Schwankungen gehabt: "Es gab einige Momente, in denen er einen Platz in der Startelf verdient hatte und die Entscheidung trotzdem gegen ihn ausfiel. Später in der Saison hatte ich das Gefühl, dass ihn das schwerer mitnimmt als am Anfang. Das ist ganz normal. Du arbeitest, arbeitest und hoffst auf die Belohnung. Aber die vier Jungs, die normalerweise starten, haben es sehr gut gemacht."

Tuchel hofft, dass Tel wieder zu seiner früheren Einstellung zurückfindet. "Ich mag es, wenn Spieler ungeduldig sind. Aber sie dürfen auch nicht zu ungeduldig sein, sodass es ihre Stimmung beeinträchtigt. Dann wirkt es sich auf die Leichtigkeit und Kreativität auf dem Platz aus." Insgesamt halte er nämlich sehr viel von Tel: "Er hat diese Körperlichkeit und diese Kraft, die sehr gut ist. Und seine Abschlussqualität ist für sein Alter außergewöhnlich. Es ist unsere Aufgabe, ihn am Laufen zu halten."

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