Bayer Leverkusen legt die beste Hinserie seiner Klubgeschichte hin, spielt den schönsten Fußball der Liga und hat eine Überfigur als Trainer. Die Werkself hat alle Zutaten für die erste Meisterschaft überhaupt.

Eine Analyse
Dieser Text enthält eine Einordnung aktueller Ereignisse, in die neben Daten und Fakten auch die Einschätzungen von Stefan Rommel sowie ggf. von Expertinnen oder Experten einfließen. Informieren Sie sich über die verschiedenen journalistischen Textarten.

Mit Patenten kennen sie sich ja aus in Leverkusen. Und weil sie offenbar auch ein bisschen Humor besitzen bei der Bayer AG, hat sich die Fußballsparte des Werksklubs im Februar 2010 den Markennamen "Vizekusen" beim deutschen Patentamt sichern lassen.

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Seither trägt "der Bayer", wie man in Leverkusen sagt, seine Bezeichnung vor sich her, ein bisschen selbstironisch, aber auch als eine Art Mahnmal: Es hat schließlich noch nie gereicht mit dem Titel in der Bundesliga - für fünf zweite Plätze aber schon.

Das Scheitern hat Bayer Leverkusen ja ein bisschen zu einer eigenen Kunstform erhoben. Spektakulär die Versuche von Christoph Daum als Bayern-Jäger Ende der 90er Jahre, tragisch das Eigentor von Michael Ballack im Sportpark in Unterhaching im Sommer 2000, das den Bayern ein paar Kilometer weiter nördlich doch noch die Meisterschaft geschenkt hat. Oder das Vize-Triple zwei Jahre später: Da hat der schönste Fußball Europas lediglich ins Tal der Tränen geführt.

In dieser Saison ist aber alles ein bisschen anders und der schöne Marketing-Gag in allerhöchster Gefahr: Bayer 04 ist auf Meisterschaftskurs und selbst die "Jaja, Leverkusen..."-Fraktion mag mittlerweile nicht mehr so recht an den ewigen Zweiten glauben.

Tormaschine läuft auf vollen Touren

Am Mittwochabend hat Bayer den letzten Gegner in diesem Kalenderjahr in seine Einzelteile zerlegt. Der VfL Bochum hat vier Stück kassiert, Leverkusen sein Torekonto damit auf sagenhafte 81 Treffer in allen drei Wettbewerben geschraubt. Gleichzeitig blieb die Werkself damit auch im 25. Pflichtspiel der Saison ohne Niederlage und hat damit den 80er-Jahre-Rekord des Hamburger SV mit seinem legendären Trainer Ernst Happel einkassiert.

Xabier Alonso Olano hat noch keinen Legenden-Status als Trainer erreicht - aber er arbeitet daran. Bayer Leverkusens Trainer ist das Mastermind hinter den Erfolgen, die ja bis jetzt immer noch ein bisschen mit Vorsicht zu genießen sind. Seine Mannschaft spielt einen betörend schönen Fußball, der in der trüben Masse der Pressing-Gegenpressing-Klaviatur der Bundesliga hell leuchtet.

Spiele mit Leverkusener Beteiligung garantieren Spektakel und Genuss und sie zwingen so manchen Gegner zu radikalen Maßnahmen. Wie jüngst Edin Terzic und Borussia Dortmund, die der Leverkusener Angriffsmaschine einen Catenaccio-Fußball entgegenstellten und damit sogar teilweise Erfolg hatten.

Alonso hat ein durchaus schwieriges erstes halbes Jahr mit diversen Rückschlägen in Leverkusen genutzt, um zum einen die Klasse zu halten, zum anderen sogar noch in den europäischen Wettbewerb einzuziehen, aber vor allen Dingen: Die Weichen zu stellen für etwas viel Größeres. Für einen Fußball, der Nachahmer finden sollte und das sogar schon tut. Der VfB Stuttgart jedenfalls versucht sich auch überaus erfolgreich an einer ähnlichen Spielidee.

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Lerneffekt beim Stuttgart-Spiel

Das Spiel beim VfB vor ein paar Tagen war jedenfalls das mit Abstand beste der bisherigen Bundesliga-Saison. Das war Fußball auf höchstem Niveau, ausgeführt von zwei fast schon rücksichtslos offensiven Mannschaften, aber auch mit zwei grundverschiedenen Halbzeiten - was den Leverkusenern für den restlichen Verlauf der Saison noch von großem Nutzen sein könnte.

In den ersten 45 Minuten wurde Bayer vom VfB in Grund und Boden gespielt. Das war eine völlig neue Erfahrung für Alonsos Mannschaft und wohl auch für den Trainer selbst. Also justierte Alonso in der Pause, schüttelte sein Team das Erlebte schnell aus den Kleidern und dominierten dann ihrerseits den Gegner fast nach Belieben.

In diesem einen Spiel konnte man sehr viel von dem sehen, was Bayer zu einer Spitzenmannschaft macht: Die schnelle Anpassung an widrige Umstände, um daraus dann selbst Kraft und Energie zu ziehen. Das Stuttgart-Spiel war nach der Partie beim FC Bayern - da kam Bayer nach zwei Rückständen zwei Mal zurück - ein zweites Ausrufezeichen. Da fiel es kaum ins Gewicht, dass beide Spiele "nur" unentschieden endeten.

Dafür gewinnt Bayer bisher die sogenannten "kleinen" Spiele, die am Ende den Unterschied ausmachen. Die drei Remis gab es gegen die Großen, die anderen 13 Spiele der Saison gegen den Rest des Tableaus entschied Bayer allesamt für sich.

Tiefer, ausgewogener Kader

In Leverkusen passt derzeit einfach die Mischung: Da ist ein durchdachter und bis ins Detail präzise ausformulierter fußballerischer Ansatz, Spieler mit herausragender Klasse aber auch genug Kämpfer und Wasserträger, die die Stars und Sternchen erst so richtig scheinen lassen. Da gibt es dieses massive Selbstvertrauen in die eigene Stärke und das Bewusstsein, dass der Kader nicht nur aus 13, 14 oder 15 wichtigen Spielern besteht, sondern jeder Einzelne seinen Beitrag leisten kann.

Im Januar werden wichtige Stammkräfte beim Afrika Cup auf Tour sein, der Auftakt mit unter anderem Spielen in Augsburg, Leipzig, mit dem Derby gegen Gladbach oder im Pokal gegen den VfB Stuttgart hat es in sich. Aber schon jetzt deutet sich an, dass der Leverkusener Kader diese Lücken aufzufangen vermag.

Selbst wenn Alonso die Rotationsmaschine anwirft, behält seine Mannschaft ihr Niveau. Auch das zeichnet große Teams aus: Dass die Spielidee als Basis so implementiert ist, dass die ausführenden Kräfte fast schon austauschbar sind. Gegen Bochum bekam etwa Angreifer Victor Boniface eine Pause - sein Stellvertreter Patrik Schick erzielte in der ersten Halbzeit einen Hattrick.

Alonso ist der Schlüssel

Bliebe nur noch diese eine Sache mit dem Sieger-Gen. "Vizekusen" hat ja auch eine Bedeutung über den reinen Marketingzweck hinaus und natürlich schien es in den letzten Jahrzehnten wie eine selbsterfüllende Prophezeiung.

Aber jetzt steht da eine junge, hungrige Mannschaft auf dem Platz, bei der einige Spieler noch nicht mal geboren waren, als Michael Ballack den Ball ins eigene Tor geschossen hat. Die das "alte" Leverkusen allenfalls von ein paar Youtube-Clips kennen. Mit Simon Rolfes führt ein Sportchef Regie, der den Klub führt, wie er als Spieler seine Mannschaften geleitet hat: mit ruhiger Hand und einem guten Auge fürs Personal.

Aber vor allen Dingen ist da Xabi Alonso. Welt- und Europameister, Champions-League-Sieger, spanischer Meister und Deutscher Meister. Wer, wenn nicht diese Ikone des Fußballs, könnte ein bisschen von seiner Gewinner-DNA abgeben?

Bayer Leverkusen hat in dieser Saison die Chance auf gleich drei Titel. In der Europa League hat sich keine andere Mannschaft so aufgedrängt, im DFB-Pokal ist Bayer unter den verbliebenen acht Teams klarer Favorit. Was besonders zählt, ist aber die Bundesliga, der "ehrlichste" aller Titel. Der FC Bayern hält noch mit, alles läuft auf einen Zweikampf um die Meisterschaft hinaus.

Aber der Rekordmeister hatte bisher nicht die Konstanz, die Leverkusen an den Tag legt. Und er hat einen deutlich dünner besetzten Kader. Deshalb sind die Chancen von Bayer Leverkusen so gut wie sehr lange nicht mehr. Was dann mit dem Markennamen "Vizekusen" wird, müsste man eben sehen...

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