Nicht nur in den vergangenen Wochen häufte sich die Kritik an Ernährungsministerin Julia Klöckner. Dabei war die CDU-Politikerin unter guten Voraussetzungen in ihr neues Amt gestartet. So sieht ihre bisherige Bilanz in den Augen von Fachleuten aus.

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Wegen eines Videos mit Nestlé-Deutschland-Chef Marc-Aurel Boersch ist Julia Klöckner (CDU) als Bundesministerin für Ernährung und Landwirtschaft in Bedrängnis vor wenigen Wochen in die Kritik geraten.

Klöckners über Twitter verbreitetes Video, das einer Werbung für den Lebensmittelkonzern Nestlé gleichkommt, brachte der Ministerin einen Shitstorm ein. Ihre demonstrative Einigkeit mit dem Chef des von Ernährungskritikern heftig kritisierten Nestlé-Konzerns sorgte für Spott und Entsetzen in der Öffentlichkeit.

Dabei war Klöckner im März 2018 mit selten guten Voraussetzungen gestartet: Der Koalitionsvertrag zwischen CDU/CSU und SPD enthält viele Aussagen, die eine Orientierung ihres Ressorts auf mehr Umwelt- und Artenschutz, mehr Tierwohl in der Landwirtschaft und gesündere Ernährung für die Bevölkerung unterstützen.

Dass sogar der Schutz der Insekten als politisches Ziel darin vorkommt, beurteilt Lasse van Aken von der Umweltschutzorganisation Greenpeace sogar "historisch".

Doch bei genauerem Hinschauen ist Klöckners bisherige Bilanz dürftig. Elisabeth Meyer-Renschhausen, Privatdozentin und Publizistin mit den Schwerpunkten Ernährung und Urban Agriculture (städtische Landwirtschaft) befindet: "Aus Julia Klöckners Haus kommen viele Worte, aber nichts Konkretes."

Tatsächlich gibt es eine ganze Reihe von Beispielen für Vorhaben, die die Regierung laut Koalitionsvertrag angehen wollte, deren Lösung aber nach wie vor aussteht.

Insektenschutz

Was der Koalitionsvertrag verspricht: "Wir werden das Insektensterben umfassend bekämpfen," heißt es auf Seite 139. Genannt werden etwa "umwelt- und naturverträgliche Anwendungen von Pflanzenschutzmitteln".

Was die Experten sagen: Die Berliner Wissenschaftlerin Meyer-Renschhausen fasst es in vier Worten zusammen: "Es ist nichts passiert." Nach wie vor müssten Bio-Imker ihren Honig entsorgen, wenn aus dem Nachbarfeld eines konventionellen Bauern Glyphosat in ihre Produkte gelangt.

Der Hannoveraner Tiermediziner Prof. Thomas Blaha sagt zwar, dass die Anwendung von Schädlingsbekämpfungsmitteln sicherlich nicht allein für das verstärkte Insektensterben verantwortlich sei.

Doch auch er konstatiert: Weder für mehr Ursachenforschung noch für eine Reduzierung der Giftanwendung gebe es konkrete Anzeichen aus Klöckners Ministerium. "Abwarten ist auf keinen Fall die richtige Lösung", mahnt der Wissenschaftler.

Tierwohl

Was der Koalitionsvertrag verspricht: Deutschland solle "beim Tierschutz eine Spitzenposition einnehmen", man wolle "die Erkennbarkeit von tierischen Lebensmitteln, die über die gesetzlichen Vorgaben der Haltung hinausgehen, (...) verlässlich, einfach und verbraucherfreundlich gestalten."

Was die Experten sagen: Ungebremste Massentierhaltung und Tiertransporte über sehr große Strecken seien in Deutschland gang und gäbe, sagt Elisabeth Meyer-Renschhausen. Von Tierwohl zu sprechen, sei deshalb "ein Witz".

Der Hannoveraner Professor, der auch Vorstandsmitglied bei der "Tierärztlichen Vereinigung für Tierschutz" ist, wirft Klöckner beim Thema Ferkelkastration "Politikversagen" vor. Die tierschonende Impfung der Eber zur Vermeidung des Geschlechtsgeruchs ohne Kastration sei praxisreif und für den Verbraucher völlig unbedenklich.

Das Landwirtschaftsministerium dagegen gebe der so genannten Isofluranmethode den Vorzug, bei der die Ferkel mit einem für Menschen potenziell gefährlichen und hochgradig klimaschädlichen Narkosegas betäubt und dann kastriert werden.

Das sei "aus tierethischer Sicht" nicht hinzunehmen und außerdem ein "Verfassungsbruch", weil die "Staatszielbestimmung Tierschutz" des Grundgesetzes nicht berücksichtigt werde.

Gesunde Ernährung

Was der Koalitionsvertrag verspricht: Förderung guter und gesunder Ernährung sowie "mehr Transparenz und Information über Nährwerte und Inhaltsstoffe".

Was die Experten sagen:

"Frau Klöckner macht ihren Job nicht!", urteilt kurz und bündig der Greenpeace-Experte. Während Ärzte- und Umweltverbände einstimmig die Einführung der so genannten "Lebensmittelampel" fordern, die auf der Verpackung leicht verständlich etwa vor zu viel Zucker oder Fett warnt, zögere Julia Klöckner klare Kennzeichnungen ebenso hinaus wie gesetzliche Vorgaben.

Blaha findet die Lebensmittelkennzeichnung "nicht wirklich zielführend" - stattdessen solle die Regierung "Schritt für Schritt" Mindeststandards bei den Inhaltsstoffen anheben und gleichzeitig mehr in die allgemeine Ernährungserziehung investieren. Derzeit allerdings betreibe das zuständige Ministerium eine "Klientelpolitik des Einknickens vor den Lobbyverbänden".

Lebensmittelverschwendung

Was der Koalitionsvertrag verspricht: "Die Reduzierung der Lebensmittelverschwendung werden wir gezielt weiterverfolgen und dabei die gesamte Wertschöpfungskette einbeziehen."

Was die Experten sagen:

"Frau Klöckner appelliert immer nur an die Bürger", urteilt Elisabeth Meyer-Renschhausen, "wichtig wäre es aber, dass man an die großen Lebensmittelketten rangeht." Sie plädiert für "kluge Gedanken zum Mindesthaltbarkeitsdatum".

Blaha, lange als Professor in den USA tätig, erinnert daran, dass dort nicht von Mindesthaltbarkeit geredet werde, sondern er Aufdruck "consume best before …" (am besten zu verbrauchen bis…) üblich sei. "Das heißt, dass man die Lebensmittel danach nicht wegschmeißen muss, sondern zum bald Verzehren angehalten wird."

Eine verbesserte "Nutzungsstrategie für Lebensmittel" kündige Klöckners Ressort schon lange an - "aber es sind keine Fortschritte zu erkennen". Die Wirtschaft sei bei diesem Thema einmal mehr weiter als die Politik, mittlerweile kündigten einige Supermärkte schon an, abgelaufene Produkte regelmäßig den Tafeln oder anderen Einrichtungen zur Verfügung zu stellen.

Trotz durchaus unterschiedlicher Beurteilung einzelner Maßnahmen aus dem Landwirtschaftsministerium sind sich die Experten in einem Thema erstaunlich einig: Die Industrienähe der Ministerin vereitle Fortschritte in Richtung einer umweltverträglichen und verbraucherfreundlichen Landwirtschaft.

Verwendete Quellen:

  • Gespräch mit Dr. Elisabeth Meyer-Renschhausen
  • Gespräch mit Lasse van Aken, Greenpeace
  • Gespräch mit Prof. Dr. med. vet. Thomas Blaha
  • Webseite des Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft - Nationale Reduktionsstrategie
  • Webseite des Naturschutzbundes Deutschland (NABU)
  • NABU: Bienenschützerin oder Freundin des Bauernverbands? Was von den Versprechen der Agrarministerin übrig blieb
  • NABU: Außer Spesen nichts gewesen Klöckners Runder Tisch zum Insektenschutz ohne Ergebnisse
  • Ein neuer Aufbruch für Europa. Eine neue Dynamik für Deutschland. Ein neuer Zusammenhalt für unser Land. Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD, 7.2. 2018
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