Die Nato probt mit 90.000 Soldaten einen russischen Angriff auf Osteuropa und Deutschlands Verteidigungsminister warnt vor russischen Angriffen auf das Baltikum. Wie real ist die Gefahr und welche Länder könnte Wladimir Putin zuerst angreifen? Experte Fabian Hoffmann ordnet die Lage ein – und hat einen dringenden Appell.

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Es ist knapp zwei Jahre her, dass Russland die Ukraine am 24. Februar 2022 angriff. Obwohl sich in dem Krieg noch kein Ende abzeichnet, denken Experten über mögliche weitere Angriffe von Russland nach, sogar auf Nato-Staaten. Im "Tagesspiegel" warnte Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) vor einer Eskalation des Krieges.

Deutschland und die Nato müssten sich für einen möglichen russischen Angriff wappnen und dürften die Drohungen aus dem Kreml, insbesondere gegenüber den baltischen Nato-Partnern, nicht auf die leichte Schulter nehmen. Dafür müsse die Bundeswehr kriegsbereit sein.

Derzeit sei ein Angriff auf ein Nato-Land unwahrscheinlich, in den nächsten fünf bis acht Jahren halten das Beobachter aber durchaus für realistisch. Im vergangenen Jahr hatte Pistorius bereits gefordert, die deutsche Gesellschaft müsse "kriegstüchtig" werden.

Größtes Nato-Manöver seit 36 Jahren

Die Warnungen von Pistorius kommen fast zeitgleich mit dem größten Nato-Manöver seit Jahrzehnten. Bei dem Großmanöver mit 90.000 Soldaten wird das Szenario eines russischen Angriffs auf Osteuropa geprobt. Die Operation "Steadfast Defender 2024" soll der Abschreckung gegenüber Russland dienen.

Kriegswissenschaftler Fabian Hoffmann sieht durchaus eine reelle Gefahr, die dem Manöver zugrunde liegt. "Wenn man sich den Diskurs in den letzten Jahrzehnten in Russland anschaut, wird klar, dass Russland für solche Fälle geplant hat", sagt er.

Viele Intellektuelle im Verteidigungs-, Militär- und technischen Bereich würden Strategien publizieren oder darüber diskutieren, wie man die Nato am besten in einem Kampf niederringen könne. "Es gibt empirische Evidenz, dass das mehr als nur eine hysterische Idee ist", sagt Hoffmann.

Russland habe in den vergangenen Wochen und Monaten deutlich gemacht, dass es die Grenzen, so wie sie jetzt in Europa verlaufen, nicht als festgeschrieben erachtet. In Hysterie verfallen sollte man aus Sicht des Experten dennoch nicht. "Man sollte sich rational auf die Bedrohung vorbereiten", meint er. Zu den Nicht-Nato-Staaten, die am gefährdetsten sind, zählt der Wissenschaftler Georgien. Das, was Russland dort 2008 angefangen habe, könnte es zu Ende bringen wollen.

Gemeint ist der seit Jahren schwelende Konflikt um die Separatistenregionen Abchasien und Südossetien, der damals in eine kriegerische Auseinandersetzung umschlug. Im sogenannten Fünf-Tage-Krieg griff Russland Georgien aus der Luft, über Land und See an.

Georgien und Republik Moldau im Fokus

Georgien war früher Teil der Sowjetunion. Den Untergang der Sowjetunion hat Russlands Präsident Wladimir Putin als die größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts bezeichnet. "Putin will wieder ein russisches Imperium", sagt Hoffmann.

Innerhalb welcher Grenzen genau, das sei unklar, aber ein weiteres Land dürfte oben auf seiner Liste stehen: die Republik Moldau. "Das Land würde mit Rumänien als Nachbarland natürlich schon sehr nah an einen Nato-Staat angrenzen", sagt Hoffmann.

Bereits seit Beginn des Angriffskriegs auf die Ukraine geht in der Republik Moldau die Sorge um, selbst von Russland angegriffen zu werden. Der Kreml hat beispielsweise als Ziel ausgegeben, auch den kompletten Süden der Ukraine erobern zu wollen und einen Korridor zwischen der Krim und der Separatistenregion Transnistrien zu bilden. Anfang September 2022 drohte Moskau offen mit einem militärischen Eingreifen, sollte die Sicherheit russischer Soldaten in Transnistrien bedroht werden.

"Wenn Russland es tatsächlich schafft, eine direkte Landlinie nach Moldawien über die Südukraine an der Küste zu etablieren, dann ist die Gefahr für Moldawien sehr groß. Es könnte zumindest unter den Einfluss zunehmender kriegerischen Akte und Kriegsbedrohungen durch Russland geraten", sagt Hoffmann.

Neben Satellitenstaaten wie Belarus und Tadschikistan gehörten früher auch die Nato-Staaten Litauen, Lettland und Estland zur Sowjetunion – und liegen damit theoretisch im Fokus des Kremls. Die baltischen Länder traten dem Bündnis 2004 bei.

Auch hier ist die Sorge vor russischer Eskalation groß. Jüngst soll Putin seine Bemühungen verstärkt haben, hier einen Vorwand für künftige Eskalationen zu schaffen. Demnach behauptete er während eines Treffens mit russischen Kommunaloberhäuptern, dass Lettland und andere baltische Staaten "ethnische russische Menschen aus ihren Ländern vertreiben" würden und diese Situation "die Sicherheit Russlands direkt beeinträchtigt". Darüber schreibt das Institute for the Study of War (ISW).

Experte: Russland will den Westen zu einem Frieden zu eigenen Gunsten zwingen

Bei der Einschätzung der Gefahrenlage für die baltischen Staaten fällt immer wieder der Begriff "Suwalki-Lücke". Damit gemeint ist ein 70 Kilometer breiter Korridor zwischen Belarus und der russischen Exklave Kaliningrad. Er erstreckt sich an der litauisch-polnischen Grenze. Wenn Russland hier vorstoßen würde, könnte es das Baltikum von den übrigen Nato-Ländern abschneiden und so den Verteidigungswillen des Westens auf die Probe stellen.

"Die Kreml-Propaganda lautet, dass die Nato keine Chance hätte und man von Tallinn bis Lissabon alles erobern wird. Auf der Entscheidungsebene ist man da ein bisschen rationaler und weiß, dass man konventionell unterlegen ist", sagt Hoffmann. Dementsprechend habe sich der Kreml aber Gedanken gemacht, wie er trotzdem als Sieger aus einem solchen Konflikt hervorgehen könne.

"Der Grundgedanke dahinter ist, dass man versuchen würde, relativ früh durch Eskalation, durch psychologischen Druck, die Nato-Entscheidungsträger in Europa zu einem verhandelten Frieden zu zwingen, der dann eben zu Russlands Gunsten ausgeht", sagt Hoffmann. Das Kalkül von Russland wäre, zu signalisieren: "Krieg mit uns tut richtig weh und betrifft eure Zivilbevölkerung enorm von Tag eins an, deshalb gebt lieber auf."

Weil trotz konventioneller Unterlegenheit durch eine solche Strategie eine reale Gefahr bestehe, müsste die Nato aus Sicht von Hoffmann ihre militärischen Fähigkeiten sehr viel schneller und mit noch sehr viel mehr Druck wieder aufrüsten. "Man muss sich auf die Worst-Case-Szenarien vorbereiten, die in Russland diskutiert werden", betont er.

Sinneswandel in der Gesellschaft nötig

Wenn man zum Beispiel davon ausgehe, dass Russland sehr früh kritische zivile Infrastruktur in Westeuropa angreifen würde, dann brauche man mehr Raketenabwehr. "Wir bräuchten dann eine solche Gegenschlagfähigkeit durch zum Beispiel Marschflugkörper, die Russland signalisiert, dass wir nicht nur einstecken, sondern auch zurückschießen können", argumentiert Hoffmann.

Auch in der Gesellschaft muss aus seiner Sicht ein Sinneswandel eintreten. "Wir müssen nüchtern über solche Szenarien nachdenken können. Dadurch würden wir Russland auch eine gewisse Bereitschaft signalisieren – dass wir vorbereitet sind und wissen, was kommen könnte und wie man Russlands Pläne zunichtemacht", sagt der Experte.

Gerade signalisiere der Westen Russland Schwäche. "Moskau lernt durch unser unendliches Zögern und die innenpolitische Spaltung in westlichen Ländern, dass wir nicht in der Lage sind, psychologisch viel Druck auszuhalten. Wir haben sehr viel Angst vor den Kosten eines Krieges", urteilt Hoffmann.

Der Westen versuche alles, um Risiken zu umgehen, auch wenn das der Ukraine schade. "Die Taurus-Debatte ist hier ein gutes Beispiel – es ist ein absolut wichtiges Waffensystem, aber Deutschland signalisiert: selbst, wenn es ein ganz geringes Restrisiko gibt, sind wir nicht willens, dieses Risiko einzugehen", sagt Hoffmann.

Hoffmann: Westen muss die richtigen Signale senden

Das könne Russland zu weiteren Angriffshandlungen verleiten, auch wenn es sich in der aktuellen Phase des Kriegs nicht erlauben könne, eine weitere Front aufzumachen. "Wir können aber nicht abschätzen, wie es in zwei, drei Jahren aussieht. Wie es dann um die ukrainischen und russischen Fähigkeiten steht, wie es politisch mit der EU und der Nato aussieht, wie die Wahlen in Deutschland und anderen Ländern ausgehen", warnt Hoffmann.

Bereits jetzt sei es wichtig, Russland die richtigen Signale von Stärke und Willenskraft zu senden. "Das beeinflusst, wie wahrscheinlich es später ist, in eine direkte Konfrontation mit Russland zu geraten. Wenn wir Russland in der Ukraine entschieden entgegenstehen, ist die Chance eines Krieges mit Russland später deutlich geringer, als bei dem Kurs, den wir jetzt fahren", ist sich Hoffmann sicher. Dieses Bewusstsein fehle in der Gesellschaft und auf Entscheidungsebene.

Über den Gesprächspartner

  • Fabian Rene Hoffmann ist Doktorand beim Oslo Nuclear Project (ONP). Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen Raketentechnologie, Nuklearstrategie und Verteidigungspolitik. Zuvor arbeitete er als wissenschaftlicher Mitarbeiter am International Institute for Strategic Studies (IISS). Hoffmann hat Abschlüsse in Kriegswissenschaften und Internationalen Beziehungen.

Verwendete Quellen

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