Ein schwer erschütterter Ministerpräsident und ein schonungsloser Verfassungsschützer suchen bei "Maybrit Illner" nach Antworten auf den Terroranschlag von Halle. Und die Sendung lohnt sich.

Eine Kritik

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Natürlich sitzt an diesem Abend die Betroffenheit mit am Tisch. Es ist nun einmal schwer, über etwas zu reden, das sprachlos macht: das Attentat von Halle. Aber Maybrit Illner stellt sich an diesem Donnerstag ihrer Aufgabe, und sie erledigt sie, das sei schon an dieser Stelle gesagt, mit Bravour.

"Anschlag in Halle – tödlicher Judenhass in Deutschland", lautet das Thema. Illner und ihre Gäste erarbeiten es sich mit Besonnenheit, ohne auf klare Ansagen zu verzichten.

Eine Wohltat, vor allem für all jene, die sich in den letzten 24 Stunden auf Twitter, Facebook und Co. umgesehen haben, wo sich Reflexmaschinen die Großbuchstaben und Ausrufezeichen um die Ohren hauen.

Wer sind die Gäste?

  • Keinen Hehl aus seinem angeschlagenen Nervenkostüm machte Rainer Haseloff (CDU). Der Ministerpräsident von Sachsen-Anhalt sagte, er werde "bis ans Lebensende zu knabbern haben" am Terroranschlag auf die Synagoge in Halle. Besonders treibt Haseloff um, wie sich ein junger Mann dermaßen isolieren und radikalisieren kann, dass er "den Respekt vor dem Leben des Anderen" verliert: "Woher beziehen diese Leute ihre Ideologie, wo ist da eigentlich die Gesellschaft, was tolerieren wir, was bagatellisieren wir?"
  • Elmar Theveßen, beim ZDF Studioleiter in Washington und Terrorexperte, beleuchtete die Orte der Radikalisierung: Internetforen, in denen sich Frauenfeinde, Rassisten und Antisemiten gegenseitig hochschaukeln in ihrem Hass auf alles, was sie als "anders" definieren. Einer ihrer Helden ist Anders Breivik, der 2011 in Norwegen 77 Menschen ermordete. "In seinem Pamphlet steckt die komplette Ideologie drin, inklusive dem Antisemitismus."
  • Die jüdische Autorin Marina Weisband (Die Grünen) beklagte, dass die Warnungen und Sorgen der Community nicht ernst genommen worden seien. "Wir fühlen uns seit Jahren nicht sicher." Deswegen könne sie auch nicht verstehen, wie Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier davon sprechen konnte, die Tat sei "unvorstellbar" gewesen – oder dass Annegret Kramp-Karrenbauer die Tat als "Alarmsignal" wertete. "Was ist dann ein Ernstfall?"
  • Der Chef des thüringischen Verfassungsschutzes, Stephan J. Kramer, einige Jahre Generalsekretär des Zentralrats der Juden, nahm Steinmeier in Schutz: "Er meinte wohl, es war eine unvorstellbare Tat." Weniger milde ging er mit den eigenen Kollegen um: "Wir müssen uns ehrlich machen, wir haben den Rechtsexremismus kleingeredet." Als er 2015 angetreten sei, habe er sich den Vorwurf anhören müssen, er "dramatisiere" die Bedrohung von rechts. "Dabei haben wir seit den 60er-Jahren Rechtsterrorismus in Deutschland."
  • Eher technisch näherte sich Sebastian Fiedler vom Bund Deutscher Kriminalbeamter dem Problem: Die Behörden seien nicht auf dem rechten Auge blind – sondern personell einfach nicht in der Lage, einen besseren Schutz jüdischer Einrichtungen zu gewährleisten. Ironisch sagte er: "Herr Seehofer hat eine lustige Bemerkung gemacht: Er will noch einen Schwerpunkt setzen, ohne alles andere zu vernachlässigen. Das ist nicht möglich. Wir haben eine so dünne Personaldecke, das ist absurd."

Was war der Moment des Abends?

Jüdin, Feministin, Grüne, Kolumnistin: Marina Weisband ist so etwas wie die ideale Hassfigur für misogyne Rechtsradikale. Sie bekommt das immer wieder zu spüren, seit Jahren wird sie mit "Hate Speech" im Internet konfrontiert, sie hat sich schon einmal ein halbes Jahr lang von Twitter verabschiedet, weil ihr Mord- und Vergewaltigungsdrohungen zusetzten.

Trotzdem bleibt Weisband ihren Überzeugungen treu. "Der Feind ist Menschenhass", sagte sie am Donnerstag und forderte, den Positionen der Rechtsaußen auch in den TV-Studios weniger Raum zu bieten. "Wir dürfen denen keine Bühne geben." Schließlich beginne die Gewalt immer bei der Sprache, so Weisband.

Anti-Rassistinnen wie Weisband wird gern unterstellt, sie würden sich auf ein moralisch hohes Ross setzen, Stichwort: weltfremde Gutmenschen. Aber Weisband ist auch Rassismus nicht fremd, offenbarte sie: "Wir alle haben rassistische Überzeugungen irgendwo in uns drin", sagte sie, "auch ich erwische mich, dass ich mich zweimal nach einem Araber am Flughafen umdrehe. Aber wir müssen offen damit umgehen, dass es diese Probleme gibt, erst dann sind wir unschuldig. Wir machen uns mitschuldig, wenn wir es ignorieren."

Vorurteile reflektieren statt sie zur Grundlage seines Handelns zu machen – das ist nicht weltfremd, sondern sehr klug.

Was war das Rededuell des Abends?

Es war keine Sendung für Streit, für Eitelkeiten oder Frotzeleien. Aber sie endete mit einem bemerkenswerten Dissens: Rainer Haseloff berichtete von seinem Besuch beim verletzten Paar im Krankenhaus. "Die haben mir eines gesagt: Für sie gibt es ein Leben bis Mittwoch und eines ab Mittwoch."

So werde es dem ganzen Land ergehen, sagte der CDU-Politiker: "Dieser Mittwoch wird deutliche Spuren in der Geschichte Deutschlands hinterlassen, da bin ich mir sicher, dafür werde ich mich einsetzen, weil ich keine andere Möglichkeit sehe, mit mir klarzukommen."

Zwei Sitze weiter dagegen: Zweifel. "Ich bin skeptisch", sagte Stephan Kramer. "Wir hatten den Mordfall Walter Lübcke. Noch gar nicht so lange her. Wir hatten den NSU. Ich fürchte, es wird sich nicht viel ändern." Einspruch Haseloff: "Was sollen wir tun, resignieren?" Nein, sagte Kramer. "Aber ich sehe nicht, dass wir an die Wurzel rangehen. Wir brauchen einen breiten Blumenstrauß, einen gesamtheitlichen Ansatz."

Wie hat sich Maybrit Illner geschlagen?

Ja, Rainer Haseloff war offensichtlich emotional ehrlich berührt. Spätestens bei der nächsten Sendung darf Maybrit Illner den CDU-Mann aber nicht wieder so einfach davonkommen lassen. Auf die berechtigte Frage, ob die Union nicht der Biedermann zu den rechten Brandstiftern ist, antwortete Haseloff erst gar nicht. Seine erratischen Überlegungen zu neuen Techniken, die Sicherheitsbehörden bräuchten, um Terroranschläge wie in Halle zu vermeiden, hätten einiger klärender Nachfragen bedürft.

Ansonsten sorgte die Gastgeberin für eine klar strukturierte Diskussion mit vielen Aha-Effekten. Viel mehr kann man an einem so schwierigen Abend nicht erwarten.

Was ist das Ergebnis?

Es sei immer dasselbe, sagte der Polizist Sebastian Fiedler genervt: "Wir sitzen immer hier, wenn es Probleme gibt, wenn wieder mehr Wohnungseinbrüche gemeldet werden, wenn Islamisten ihr Unwesen treiben, nach den Silvester-Vorfällen in Köln. Die Politik reagiert erst, wenn was passiert."

Fiedler hat jedes Recht, genervt zu sein, so wie Marina Weisband das Recht hat, wütend zu sein, weil Antifaschisten und jüdische Verbände seit Jahren vor rechtem Terror gewarnt haben. Aber vielleicht ist Halle ja wirklich ein "Bruch", wie Maybrit Illner sagte, vielleicht bewegt sich etwas, wie Rainer Haseloff versprach.

"Bildung, Bildung, Bildung", sei das Wichtigste, sagte Stephan Kramer. Fiedler will die bizarren Auswüchse des Föderalismus bei den Sicherheitsbehörden endlich beseitigen. Und letztlich, sagte er, sei ohnehin "das Kitten der Gesellschaft das größte Wunschpaket", denn je polarisierter eine Gesellschaft, desto mehr Arbeit für die Sicherheitsbehörden.

Marina Weisband drängt auf ein Demokratiepaket, in dem Projekte für Jugendliche finanziert werden. Ansätze und Rezepte sind da, das zeigte dieser Abend. Bislang fehlte der Wille. Der müsste nun da sein, wenn auch zu spät für zwei Menschen.

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