Der Umgang mit der Flüchtlingssituation ist eine Bewährungsprobe für die Bundesregierung. Vor allem aus Bayern kommt immer wieder Kritik an Bundeskanzlerin Angela Merkel und ihrer "Wir schaffen das!"-Politik. Bei "Anne Will" zeigt sich Merkel genauso realistisch wie optimistisch. Und vor allem kämpferisch.

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Die Kanzlerin greift durch. Wer Angela Merkel bisher als abwartende, vielleicht zögerliche Regierungschefin wahrgenommen hat, dem hat die Kanzlerin dieser Tage ihre andere, kämpferische Seite gezeigt. Noch am Vortag erklärte Merkel die Flüchtlingssituation zur Chefsache und ordnete die Zuständigkeiten neu. Kanzleramtsminister Peter Altmaier soll nun die Arbeit koordinieren, Innenminister Thomas de Maizière leitet das operative Geschäft. Damit holte sich die Kanzlerin nicht nur die Führung ins eigene Haus, das Kanzleramt, sondern zeigt zugleich nach außen Handlungsstärke.

Bei ihrem Auftritt gestern Abend bei "Anne Will" sah man dementsprechend eine Kanzlerin, die ihre Politik entschlossen verteidigt, ohne zu verschweigen, dass die aktuelle Situation eine der größten Herausforderungen seit der Wiedervereinigung ist – aber eben eine machbare.

Merkel kontert Seehofer

Wenn man Angela Merkel und ihren Umgang mit der Flüchtlingssituation in einem Satz zusammenfassen möchte, dann wohl mit ihrer Aussage "Wir schaffen das." Auch gestern Abend zeigt sich die Kanzlerin optimistisch, die aktuellen und kommenden Herausforderungen zu meistern. Auf die Frage von Will, ob das tatsächlich machbar ist, gab es für Merkel dementsprechend nur eine Antwort: "Ja, wir schaffen das, davon bin ich fest überzeugt." Angesprochen auf den Vorwurf von CSU-Chef Horst Seehofer, Merkel habe keinen Plan, antwortete die Bundeskanzlerin bestimmt: "Ich habe einen Plan" - und weiter: "Ich muss das Problem lösen."

Gleichwohl sehe sie durchaus, dass das "eine außergewöhnliche Situation sei, vielleicht die schwierigste seit der Wiedervereinigung." Deshalb sei sie auch so stolz auf die vielen Helfer, die bis zur Erschöpfung anpacken und an der Lösung der Lage arbeiten. Doch Dank alleine ist keine Lösung, dementsprechend arbeite die Bundesregierung daran, die ganze Situation in geordnete Bahnen zu bringen. Das betrifft für Merkel drei Ebenen.

Zum einen müsse die Lage in Deutschland selbst verbessert werden. Daneben müsse es auf europäischer Ebene eine gerechtere Verteilung der Geflohenen geben. Und es müsse an der Bekämpfung der Fluchtursachen gearbeitet werden. Dazu werde die Bundesregierung in Zukunft in der Außen- und Entwicklungspolitik selbstbewusster und mit größerem Engagement auftreten. Bisher habe man gedacht, dass Krisen wie die in Syrien weit weg von der eigenen Haustüre stattfänden. Aber die Globalisierung bringt die Konflikt nach Europa, nach Deutschland.

Tränengas gegen Kinder als Alternative?

Und genau an dieser Stelle ging die Kanzlerin in die Offensive, indem sie Anne Will auf ihre Frage, ob sie die Deutschen überfordere, eine treffende Analyse gab: "Ich habe die Situation nicht herbeigeführt, sondern muss aus dieser Situation eine geordnete machen. Die Menschen hatten Gründe, ihre Heimat zu verlassen."

Damit spricht die Kanzlerin eine Problematik an, die die polternden "Wir können nicht mehr"-Redner aus Bayern gerne übersehen: Natürlich ist die Lage manchenorts dramatisch. Aber was ist die Alternative? Die ungarische Lösung? Ein Grenzzaun? Tränengas gegen Kinder?

Kein Wettbewerb, "wer Flüchtlinge am schlechtesten behandelt"

Solch einem "Wettbewerb der Unfreundlichkeit" erteilt Merkel eine Absage: "Ich will keinen Wettbewerb, wer Flüchtlinge am schlechtesten behandelt, damit schon keine kommen." Merkels Lösung ist das freundliche Gesicht für diejenigen, die Schutz suchen. Alles andere sei auch nicht machbar, schnelle Lösungen wie ein Aufnahmestopp ohnehin nicht: "Wie soll das funktionieren? Sie können die Grenzen nicht schließen", erklärt Merkel die Aussichtslosigkeit solcher Gedanken.

Es läge nicht an uns, wie viele kommen. Man müsse aber dafür sorgen, dass die Situation gesteuerter ablaufe. Dafür brauche Merkel Mitstreiter in der EU, aber zum Beispiel auch in der Türkei und erst recht in den eigenen Reihen: "Ich brauche Thomas de Maizière mehr denn je."

Kanzlerin entschlossen, aber gelassen

"Die Leute sollen schon wissen, wer ihre Kanzlerin ist", sagt Merkel gestern Abend bei "Anne Will". Zumindest in der Flüchtlingsfrage dürfte darüber nun kein Zweifel mehr herrschen. Die Kanzlerin wirkte entschlossen, aber gelassen. Entschlossen, ihre Politik der Hilfe fortzusetzen und gelassen in ihrem Optimismus, die Lage gemeinsam meistern zu können.

Man könnte statt die Gelassenheit auch als Vertrauen in ihr Land und seine Menschen auslegen. Zugleich zeigte sich Merkel scharf in der Analyse der Situation. Ihr geht es um das große Ganze. Um Mitmenschlichkeit für Menschen in Not, um die Verteidigung der europäischen Werte und um eine konkrete Lösung bislang vernachlässigter Probleme.

Merkel nennt Multikulti "Lebenslüge"

Gleichzeitig aber macht Merkel klar, dass die Ankommenden sich in das Aufnahmeland integrieren müssen ("Multikulti halte ich für eine Lebenslüge, weil das bedeutet, dass jeder tun kann, was er will."), nimmt aber auch all denjenigen die Angst, die glauben, ihr Land irgendwann nicht mehr wiederzuerkennen.

Es war ein souveräner und klarer Auftritt der Kanzlerin, der ihren Kritikern zumindest vorerst den Wind aus den Segeln nehmen dürfte. Dennoch muss die Bundesregierung nun die Probleme zügig angehen. Wenn nicht, schadet das allen: der Kanzlerin selbst, dem Zusammenhalt im Land, den Helfern, den demokratischen Kräften - und vor allem den Flüchtlingen.

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