Um Martin Schulz‘ geplante Korrekturen an der Agenda 2010 geht es bei "Maischberger". Zwischen Hannelore Kraft und Oskar Lafontaine fliegen die Fetzen. Der Vorwurf des Ex-SPDlers: Die Genossen reden nur und tun nichts.

Mehr aktuelle News

Martin Schulz könnte sofort Kanzler werden, wenn er wollte. Und die Agenda 2010 könnte Geschichte sein. Es war ein gewagtes Szenario, das Oskar Lafontaine am späten Mittwochabend bei "Maischberger" andeutete, und keines, das er sonderlich ernst meinte.

Der 73-Jährige wollte nur einen Punkt beweisen: Die SPD rede mal wieder viel und mache dann nichts, sagte Lafontaine, und Nordrhein-Westfalens Ministerpräsidentin Hannelore Kraft widersprach energisch.

Also trieb er seine Überlegung auf die Spitze: Schon jetzt gebe es eine Mehrheit im Bundestag, warum also nicht sofort handeln? Kraft verdrehte die Augen. Es war der Höhepunkt eines denkwürdigen Streits, genährt aus persönlicher Abneigung und parteipolitischen Gegensätzen.

"Schluss mit Agenda 2010: Macht Schulz das Land gerechter?", fragte Sandra Maischberger ihre Gäste, und das Problem lag in der Frage: Weder ist Schulz schon Kanzler, noch sind alle seine Reformvorschläge im Detail bekannt, noch war sich die Runde überhaupt einig darüber, ob es in Deutschland ungerecht zugeht, wie Schulz sagt, oder eher nicht. Geschweige denn darüber, was die Agenda 2010 damit zu tun hat.

Und Fakten, das wurde schnell klar, helfen in dieser Diskussion nur bedingt weiter. Weil sie nicht objektiv sind.

Abstiegsangst und Druck

Der Unternehmer Thomas Selter verteidigte die Agenda mit der nüchternen Ausstrahlung eines Buchhalters als Erfolg und führte als Beleg die gesunkene Arbeitslosenquote ins Feld. Ein Argument, das Oskar Lafontaine früh die Zornesröte ins Gesicht trieb: "Die Menschen kriegen die kalte Wut, wenn sie so etwas hören." Die Zahlen des Unternehmers konterte der 73-Jährige mit dem Verweis auf die gesunkenen Reallöhne für Niedrigverdiener und die Ausweitung von Zeitarbeit.

Ihm zur Seite sprang Ulrich Wockelmann, mit ergrauter Zottelmähne und Rauschebart, seit 22 Jahren arbeitslos und Anti-HartzIV-Aktivist. Statt mit Zahlen argumentierte er mit dem, was er im "Schikane"-System erlebt: sinnlose Qualifizierungsmaßnahmen, drakonische Sanktionen.

Lafontaine nahm den Ball auf, wollte von persönlichen Einzelschicksalen reden, vom Gemeinschaftsgeist in der Gesellschaft, der von der Agenda "zerstört" worden sei, und über den Druck. "Die Abstiegsängste sind in der Mittelschicht angekommen."

Diese Entwicklung hat der Frankfurter Soziologe Oliver Nachtwey gerade meisterhaft in seinem Buch "Die Abstiegsgesellschaft" in beeindruckender Datenfülle beschrieben. Ein solcher Experte fehlte in dieser Runde, die doch sehr lax Zahlen aus dem Ärmel schüttelte und mit gefühlten Wahrheiten hantierte.

"Er baggert schon"

An einem salomonischen Urteil versuchte sich Nordrhein-Westfalens Ministerpräsidentin Hannelore Kraft, sinnvollerweise in der Mitte platziert: "Zu sagen, die Agenda ist nur gut oder nur schlecht, das ist zu einfach".

Kraft war der einzige weibliche Gast an einem Weltfrauentag, an dem es erstaunlich oft um die Gefühle von Männern ging. Vehement versuchte Maischberger Kraft ein Lob für den Ex-Kanzler Gerhard Schröder und seine Agenda zu entlocken, aber die Ministerpräsidentin wehrte sich verbissen. In einem Einspieler durfte sich Schröder selbst beweihräuchern, es wirkte, als wolle die Redaktion einem einsamen, verkannten Staatsmann die Chance zur Rehabilitierung bieten.

CDU-Finanzpolitiker Ralph Brinkhaus nahm die Vorlage breit grinsend auf und wiederholte den Merkelschen Satz, den Kraft verweigerte: "Gerhard Schröder hat sich verdient gemacht um Deutschland".

Es gehöre zu den "Verrücktheiten dieser Zeit", dass in diesen Wochen die SPD Schröders Agenda 2010 reformieren und die Union sie verteidigen will, sagte Sandra Maischberger. Dabei ist das gar nicht verrückt, sondern falsch. Die Union hat die Hartz-Reformen im Wesentlichen mitgetragen, die einzige wirkliche Opposition hat sich links von der SPD gebildet. In einem "schmerzvollen Prozess", wie Oskar Lafontaine seinen ganz persönlichen Abschied von der Partei bezeichnete, deren Vorsitzender er von 1995 bis 1999 war.

Lafontaines Energie richtet sich auf Kraft

Kein Wunder, dass er seinen Lieblingsgegner weder im neoliberalen Stricknadel-Unternehmer Thomas Selter ("Wenn man das Reformpaket zurückschraubt, werden wir wieder der kranke Mann Europas") fand noch im etwas blassen Brinkhaus. Seine Energie richtete er ganz auf SPD-Frau Hannelore Kraft – spätestens, nachdem sie ihn eine "Enttäuschung für die Partei" genannt und maliziös hinzugefügt hatte, früher sei Lafontaine ja gar nicht links gewesen.

Dabei lagen die beiden Intimfeinde auf Zeit inhaltlich gar nicht so weit auseinander. Tatsächlich diskutierte die Runde besonnen etwa über das vierjährige Arbeitslosengeld mit Weiterbildung oder die Abschaffung der sachgrundlosen Befristung, Punkte, in denen Linkspartei und SPD durchaus zusammenkommen könnten.

Nur störte Lafontaine, dass Kraft keine Farbe bekennen wollte. "Wenn Sie nicht sagt, mit wem Sie ihre Vorschläge umsetzen will", dröhnte der Ex-SPD-Chef, "kann Sie alles in die Tonne werfen. Das gilt auch für Martin Schulz." "Er baggert schon für eine Koalition", ätzte CDU-Mann Brinkhaus. Dabei dürfte jedem Zuschauer klar sein: Wenn das ein Flirt war zwischen Kraft und Lafontaine, dann wird Rot-Rot-Grün keine Liebeshochzeit.

JTI zertifiziert JTI zertifiziert

"So arbeitet die Redaktion" informiert Sie, wann und worüber wir berichten, wie wir mit Fehlern umgehen und woher unsere Inhalte stammen. Bei der Berichterstattung halten wir uns an die Richtlinien der Journalism Trust Initiative.