• Karl Lauterbach ist seit einem Jahr Bundesgesundheitsminister.
  • Als Experte ist der SPD-Politiker in seinem Element. Doch die Umsetzung seiner Pläne ruckelt an vielen Stellen.
  • Dabei ist der Reformbedarf in der Gesundheitspolitik groß. Eine Zwischenbilanz.
Eine Analyse
Dieser Text enthält eine Einordnung aktueller Ereignisse, in die neben Daten und Fakten auch die Einschätzungen von Fabian Busch sowie ggf. von Expertinnen oder Experten einfließen. Informieren Sie sich über die verschiedenen journalistischen Textarten.

Es gibt kaum Minister, die auf Druck der Bevölkerung in ihr Amt kommen. Bei Karl Lauterbach war das jedoch der Fall. Vor einem Jahr bereitete sich die Ampel-Koalition aufs Regieren vor, am winterlichen Horizont zeichnete sich eine neue Corona-Welle ab. Pandemie-Erklärer und Talkshow-Dauergast Lauterbach (SPD) hatte zwar den Hass der Gegner der Corona-Maßnahmen auf sich gezogen, doch der Ruf nach ihm war in der Öffentlichkeit unüberhörbar: Wenn jemand Gesundheitsminister kann, dann doch wohl der bekannteste Gesundheitsexperte des Landes. Und so kam es.

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Corona-Politik und Kommunikation: Lauterbachs Patzer und Baustellen

Ein Jahr später lässt sich feststellen: Es ruckelt in der Gesundheitspolitik. Lauterbach hat vieles angestoßen. Doch zum üblichen und erwartbaren politischen Streit kommen Kommunikationspannen, verärgerte Verbände und verpasste Ziele. Dazu eine – nicht vollständige – Übersicht:

  • Seinen vorsichtigen Corona-Kurs konnte Lauterbach bisher kaum durchsetzen. Die Einführung einer allgemeinen Impfpflicht gegen das Coronavirus – ein Anliegen von ihm wie auch von Bundeskanzler Olaf Scholzscheiterte im April im Bundestag. Auch die Impfpflicht für Personal in Gesundheits- und Pflegeeinrichtungen soll nach dem Willen der Koalitionsfraktionen bald auslaufen.
  • Die Länder scheren ebenfalls aus: Im November haben fünf Landesregierungen die Isolationspflicht für Corona-Infizierte aufgehoben – gegen den ausdrücklichen Rat des Bundesministers.
  • Mehrmals hat Lauterbach mit widersprüchlichen Aussagen für Verwirrung gesorgt. Am 4. April kündigte er selbst an, die Isolationspflicht für Corona-Infizierte werde zum 1. Mai wegfallen. Einen Tag später nahm er die Ankündigung in der Talkshow von Markus Lanz zurück und bezeichnete sie als Fehler.
  • Für Verwirrung sorgten im Sommer auch unterschiedliche Aussagen des Ministers und der Ständigen Impfkommission, ab welchem Alter eine vierte Corona-Impfung sinnvoll sei.
  • Heftig war der Widerspruch zur Finanzreform der Gesetzlichen Krankenkassen. Sie legt unter anderem fest, dass Hebammen nicht mehr aus dem Pflegebudget der Kliniken bezahlt werden. Nun befürchten die Hebammen, Opfer von Sparmaßnahmen zu werden. Lauterbach lenkte schließlich ein und will nachbessern.
  • Zu Kommunikationspannen nach außen kommt offenbar schlechte Stimmung im Bundesgesundheitsministerium: Der "Spiegel" (Bezahlinhalt) zitierte vor kurzem aus dem Protokoll einer digitalen Personalversammlung. Mitarbeitende beklagten sich dort über hohe Arbeitsbelastung und mangelnde Kommunikation des Ministers mit ihnen.

Einzelkämpfer statt Netzwerker

Bei der Suche nach Gründen für diese Probleme landet man zunächst beim Wesen der Ampel-Koalition: In der Gesundheitspolitik liegen die Ziele von SPD, Grünen und FDP zum Teil weit auseinander.

In der Corona-Politik hat Lauterbach den Koalitionsstreit zwischen seinem "Team Vorsicht" und der auf Öffnungen drängenden FDP nur bedingt schlichten können. Als Experte war und ist er in seinem Element. Doch ein erfolgreicher Minister braucht nicht nur Fachwissen. Er muss auch Netzwerke pflegen, wenn er Ziele erreichen will. Er muss geschickt an den Stellschrauben der politischen Prozesse drehen und Menschen einbinden, auf deren Zustimmung er angewiesen ist.

Lauterbach aber gilt im politischen Betrieb als Einzelkämpfer und nicht als geschickter Netzwerker. In seinen ersten Amtsmonaten fiel das Wort "ich" sehr häufig in seinen Sätzen. Dabei regiert ein Minister nie allein, sondern immer nur im Zusammenspiel mit seinen Beamtinnen und Beamten und den Regierungsfraktionen.

Das Urteil der Opposition nach einem Jahr Gesundheitspolitik der Ampel fällt so aus: "Im Bundesgesundheitsministerium herrscht derzeit mehr Chaos als Ordnung, mehr Unklarheit als Klarheit", sagt der stellvertretende CDU/CSU-Fraktionsvorsitzende Sepp Müller. "Wir haben einen Minister, der sehr tief in den Themen steckt. Aber ihm fehlt das Werkzeug, um seine Politik umzusetzen."

Zu selten im Ausschuss?

Der frühere Universitätsprofessor Lauterbach ist zwar ein politischer Quereinsteiger, aber kein Neuling. Seit mehr als 17 Jahren sitzt er im Bundestag, hat als Abgeordneter viele Reformen und Reförmchen verhandelt. Doch den engen Draht zum Parlament pflegt er jetzt als Minister weniger. Im Gesundheitsausschuss des Bundestages ist er ein eher selten gesehener Gast. Sein Vorgänger Jens Spahn sei häufiger da gewesen, heißt es aus verschiedenen Fraktionen.

Lauterbach weist diesen Vorwurf zurück: Anders als in der vergangenen Legislaturperiode würden sich die Ausschusstermine mit den Sitzungen des Bundeskabinetts überschneiden. "Wir haben derzeit eine schwierige Situation mit der Energiekrise, der Inflation, dem Krieg in der Ukraine", sagt Lauterbach. Trotzdem sei er im Ausschuss, wenn es wichtige Themen zu besprechen gibt. "Der Ausschuss hat für mich hohe Bedeutung. Ich bin jederzeit bereit, den Ausschuss zu bedienen. Spätabends, am Wochenende, an jedem Wochentag."

Lobby-Verbände müssen warten – und sind unzufrieden

Lauterbach legt großen Wert darauf, dass seine Politik auf Wissenschaft basiert. Das zeigt sich auch an der 16-köpfigen Kommission, die derzeit im Auftrag der Bundesregierung Vorschläge für eine Krankenhausreform erarbeitet. Sie besteht praktisch ausschließlich aus Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern. Verbände des Gesundheitswesens und die Bundesländer sitzen dort zu ihrem Ärger nicht am Tisch. Dabei müssten sie die Reformen letztlich umsetzen.

Für diesen Weg hat sich Lauterbach bewusst entschieden. In der Gesundheitspolitik rangeln sehr selbstbewusste Verbände um Macht, um ihre teils gegensätzlichen Interessen durchzusetzen: Ärztinnen und Ärzte, Krankenhäuser und Patientenverbände, Krankenkassen und Pharmaindustrie. Lauterbach will, dass zunächst die Wissenschaft Vorschläge macht und die Verbände erst im zweiten Schritt zum Zug kommen. Das ist einerseits nachvollziehbar, weil der Prozess so zunächst frei von Lobby-Interessen bleibt.

Doch diese Methode hat auch einen Nachteil: Die Verbände mit ihrer praktischen Erfahrung fühlen sich zu wenig gehört und mitgenommen. Das zeigte sich vor kurzem in einer Anhörung des Gesundheitsausschusses: Dort ging es um die Einführung sogenannter Hybrid-DRGs, mit denen Krankenhäuser künftig auch ambulante Behandlungen abrechnen können. Eigentlich eine kleine Revolution im Gesundheitswesen.

Der Vorsitzende der Deutschen Krankenhaus-Gesellschaft, Gerald Gaß, zeigte sich jedoch "extrem irritiert" über die Methoden des Ministeriums: Wichtige Änderungsanträge zum Gesetzesentwurf habe man erst 24 Stunden vor der Sitzung bekommen. "Es ist ohne Beispiel, in welcher Weise zentrale Reformthemen über Nacht mit heißer Nadel als Gesetzentwurf formuliert werden", teilte Gaß mit.

Vermeidbaren Ärger hat sich das Bundesgesundheitsministerium auch mit den Hebammen eingehandelt, die fürchten, zur Einsparmasse von Kliniken zu werden. Dabei wollte Lauterbach ihnen mit seinen Reformplänen eigentlich entgegenkommen. "Für ein Krankenhaus soll es sich nicht mehr lohnen, auf dem Rücken der Hebammen zu sparen. Die Hebammenverbände wollten diese Gewissheit jetzt schon haben. Die kann ich ihnen geben", sagt er.

Möglicherweise wäre es also gar nicht erst zur öffentlichen Aufregung gekommen, wenn man im Vorfeld mal miteinander gesprochen hätte.

Heike Baehrens (SPD): "Er hat ein Riesenpensum"

Karl Lauterbach bezahlt für dieses Amt einen hohen Preis. Er und seine Kinder erhalten regelmäßig Morddrohungen. Davon will sich der Minister aber nicht bremsen lassen. "Er hat in seinem ersten Jahr viele Gesetzesprozesse auf den Weg gebracht. Er hat wirklich ein Riesenpensum und ist unheimlich fleißig", sagt seine Parteifreundin Heike Baehrens, gesundheitspolitische Sprecherin der SPD-Bundestagsfraktion.

Das sieht Maria Klein-Schmeink, Gesundheitsexpertin und stellvertretende Vorsitzender der Grünen-Fraktion im Bundestag, ähnlich; allerdings verweist sie auf die Gesamtleistung der Koalition: "Für uns als Ampel-Koalition – die Fraktionen gemeinsam mit dem Bundesgesundheitsministerium – kann ich sagen: Wir haben innerhalb eines Jahres bereits einiges angepackt und angeschoben, was zuvor zwölf Jahre lang nicht angepackt wurde."

Die großen Aufgaben kommen noch

Reichen wird das aber nicht, das wissen auch die Abgeordneten. In den vergangenen drei Jahren war die deutsche Gesundheitspolitik vor allem mit der Bewältigung der Corona-Pandemie beschäftigt. Dringende Reformen blieben währenddessen liegen. "In der Kranken- und der Pflegeversicherung bestehen riesige Strukturprobleme. Wenn das Bundesgesundheitsministerium sie nicht angeht, werden sie wie ein Damoklesschwert über den zukünftigen Bundesregierungen hängen", sagt CDU-Politiker Sepp Müller.

Die Sozialdemokratin Heike Baehrens fordert zudem weitere Anstrengungen, um mehr Pflegekräfte zu gewinnen. "Was wir bisher gemacht haben, wird überholt durch den demografischen Wandel, also eine weiter alternde Gesellschaft. Wir brauchen einen Masterplan Pflege, um mehr Menschen für die Pflegeberufe zu finden."

Prestigeprojekt Krankenhausreform

Und dann wäre da noch Lauterbachs Prestigeprojekt, eine große Krankenhausreform. Er will die Zahl der stationären Behandlungen senken und die Krankenhäuser auf eine solidere Finanzbasis stellen. Langfristig werden sich gerade im ländlichen Raum einige Krankenhäuser zu Gesundheitszentren entwickeln, die eine Grundversorgung anbieten und sich auf bestimmte Eingriffe spezialisieren, statt die ganze "Palette" abzudecken.

"Erschütternde Morddrohungen": Lauterbach geht nicht mehr ohne Personenschutz aus dem Haus

Nach eigenen Angaben hat Gesundheitsminister Karl Lauterbach Morddrohungen gegen sich und seine Kinder erhalten. Deshalb müsse er sich nun an viele Regeln halten. Erst vor kurzem ist eine geplante Entführung Lauterbachs aufgeflogen.

Grünen-Politikerin Maria Klein-Schmeink zählt insgesamt fünf große Baustellen im Gesundheitswesen auf: die Krankenhausreform, die Pflege, die Fachkräfte-Sicherung, die Digitalisierung und die Zukunft der Kranken- und Pflegeversicherung. "All diese Reformen werden wir im nächsten Jahr auf den Weg bringen müssen", sagt sie.

Das ist ein ehrgeiziges Programm. Denn diese Reformen werden nicht einfach sein. Sie müssen mit Verbänden, Ländern und Kommunen ausgehandelt, sie müssen in der Öffentlichkeit erklärt und vermittelt werden.

Vielleicht ist Lauterbach genau der richtige Mann für diese schwierigen Aufgaben: Fast jeder kennt ihn. Fast keine Talkshow lässt er aus, um über seine Pläne zu sprechen. Ob aus dem erfolgreichen Gesundheitsexperten aber auch ein erfolgreicher Gesundheitsminister wird? Das hängt vor allem davon ab, ob Lauterbach in den kommenden Jahren weniger als einzelgängerischer Experte agiert – und mehr als Politiker.

Verwendete Quellen:

  • Gespräche mit Bundestagsabgeordneten und Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach
  • Bundesministerium für Gesundheit: Pressemitteilung: BM Lauterbach stellt Krankenhaus-Kommission vor
  • Bundestag.de: Anhörung des Gesundheitsausschusses zum Krankenhauspflegeentlastungsgesetz
  • Deutsche Krankenhaus-Gesellschaft: Pressemitteilung: DKG zur Anhörung zum Krankenhauspflegeentlastungsgesetz – Licht, aber auch viel Schatten
  • Spiegel.de: "Mal ehrlich, es gab massive inhaltliche Verständigungsprobleme"
  • ZDF.de: Corona-Debatte bei "Lanz": Lauterbach: Isolationspflicht bleibt nun doch
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