Der Staat war zuletzt oft nicht in der Lage, ausreichend für Recht und Ordnung zu sorgen, sagt Bundesgesundheitsminister Jens Spahn. Alles nur Panikmache eines CDU-Scharfmachers oder der Anstoß für eine nötige Veränderung? Ein Blick auf die Fakten.

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Mit einem Interview in der "Neuen Zürcher Zeitung" hat Jens Spahn eine Debatte über rechtsfreie Räume in Deutschland losgetreten.

In dem Gespräch sagte der Bundesgesundheitsminister (CDU): "Die Aufgabe des Staates ist es, für Recht und Ordnung zu sorgen. Diese Handlungsfähigkeit war in den letzten Jahren oft nicht mehr ausreichend gegeben. Die deutsche Verwaltung funktioniert sehr effizient, wenn es darum geht, Steuerbescheide zuzustellen. Bei Drogendealern, die von der Polizei zum zwanzigsten Mal erwischt werden, scheinen die Behörden aber oft ohnmächtig."

In manchen Arbeitervierteln in Essen, Duisburg oder Berlin entstehe der Eindruck, "dass der Staat gar nicht mehr willens oder in der Lage sei, Recht durchzusetzen".

CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt sprang Spahn bei: "In manchen Bundesländern kann man den Eindruck bekommen, dass linke Chaoten eher geschützt als bestraft werden", sagte er der "Bild". "Beispiele von linken Propagandahöhlen wie die Rote Flora in Hamburg oder die Rigaer Straße in Berlin lassen die Bürger am Rechtsstaat zweifeln."

Nicht nur inhaltlich decken sich die Aussagen der beiden Unionspolitiker, sondern auch sprachlich: Behörden "scheinen ohnmächtig" und "Eindrücke" könnten entstehen - die Konjunktive häufen sich.

Wir greifen die Vorwürfe auf und machen den Faktencheck.

Die Zahl der Gewalttaten ist gestiegen

Für 2016 (neuere bundesweite Zahlen liegen noch nicht vor) zählt die Kriminalstatistik ähnlich viele Straftaten wie für 2015. Dabei ist die Zahl der Wohnungseinbrüche, Ladendiebstähle und Betrugsdelikte im Vergleich zum Vorjahr zurückgegangen - die Zahl der Gewalttaten nach jahrelangem Rückgang aber erstmals wieder gestiegen.

Bei Mord und Totschlag verzeichnete das Bundeskriminalamt ein Plus von 14,3 Prozent, bei Vergewaltigungen und sexueller Nötigung ein Plus von 12,8 Prozent. Bei gefährlicher und schwerer Körperverletzung gab es einen Zuwachs von knapp 10 Prozent.

Der Anteil von Mord und Totschlag an der Gesamtkriminalität liegt bei 0,1 Prozent, der von Sexualdelikten bei 0,8 Prozent. Die Aufklärungsquote stieg weitgehend parallel zur Zahl der Taten.

Zur Wahrheit gehört, dass der Anstieg zum überwiegenden Teil auf das Konto der Zuwanderer geht. 2016 gab es knapp 90 Prozent mehr zugewanderte Tatverdächtige als 2015.

Zur Wahrheit gehört aber auch, dass es vor allem Migranten sind, die darunter leiden: 80 Prozent der Zuwanderer, die Opfer einer Gewalttat wurden, waren Opfer der Gewalt eines anderen Zuwanderers.

Diskrepanz zwischen Gefühl und Fakten

"Die gefühlte und die faktische Kriminalität klaffen zunehmend auseinander", sagte jüngst der Direktor des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen, Thomas Bliesener, anlässlich der Vorstellung der niedersächsischen Kriminalstatistik für 2017.

Das deckt sich mit dem Ergebnis einer repräsentativen Befragung, die das Meinungsforschungsinstitut infratest dimap vergangenes Jahr durchgeführt hat.

Danach befürchteten die Interviewten vor allem, bestohlen, überfallen oder beraubt zu werden. Sie sorgten sich also just vor jenen Straftaten, deren Zahl zuletzt gesunken ist.

Grundsätzlich aber gab die Mehrheit der Befragten an, sich sehr sicher (24 Prozent) oder eher sicher (51 Prozent) zu fühlen.

Auf die Frage, wie sich ihr Sicherheitsgefühl in den vergangenen zwei Jahren verändert hat, gab eine Mehrheit von 65 Prozent an, es habe sich wenig verändert. 32 Prozent fühlten sich dagegen weniger sicher.

Regional gibt es große Unterschiede

Selbstredend, dass die bundesweiten Zahlen der Kriminalstatistik nichts über die Situation an ausgewählten Orten aussagen. So hat der "Spiegel" recherchiert, dass die Sicherheitslage an neun der zehn meistfrequentierten Bahnhöfe in Deutschland 2016 deutlich schlechter war als fünf Jahre zuvor.

Extremstes Beispiel ist Stuttgart. Erfasste die Bundespolizei dort 2011 noch 1.580 Straftaten, waren es 2016 fast doppelt so viele.

In einem Interview mit "ntv" hat Bundeskanzlerin Angela Merkel kürzlich zugegeben, dass es in Deutschland "Räume gibt, wo keiner sich hintraut", sogenannte No-Go-Areas. "Die muss man dann auch beim Namen nennen und etwas dagegen tun", sagte Merkel.

Sparzwang und das Problem mit dem Föderalismus

In den vergangenen Jahren sind die Anforderungen an die Polizei gewachsen: Wegen der Terrorgefahr sind mehr Beamte zum Objektschutz und der Überwachung von Großveranstaltungen und Weihnachtsmärkten nötig.

Mit der verstärkten Zuwanderung ab 2015 kam die Aufgabe hinzu, Flüchtlingsheime zu schützen. Außerdem sind seither Tausende Polizisten an den Grenzen im Einsatz.

Die Polizei muss sich zudem auch weiterhin mit politischen Straftaten auseinandersetzen.

Während es 2016 bei links-motivierten Gewaltdelikten einen Rückgang von Minus 24,2 Prozent gab, gab es bei "fremdenfeindlichen Straftaten" (plus 5,3 Prozent) und Straftaten mit antisemitischem Hintergrund (plus 7,5 Prozent) Zuwächse.

Den stärksten Anstieg verzeichnet die Polizei 2016 bei politisch motivierten Straftaten von Ausländern (plus 66,5 Prozent). Diese Zahl sei "maßgebend von Auseinandersetzungen geprägt, die aus dem Konflikt zwischen der Türkei und der Arbeiterpartei Kurdistans resultierten", erklärte Bundesinnenministerium damals.

Parallel zu den polizeilichen Herausforderungen haben die Innenminister der Länder über Jahre hinweg am Personal gespart. Seit 1998 fielen laut Statistischem Bundesamt rund 13.700 Stellen weg. Die Folge: Überlastung trotz Überstunden. Und weniger Präsenz auf Straßen und Plätzen.

Je nach Bundesland ist die Situation unterschiedlich angespannt, sind die Sicherheitsstandards und die Qualität der Ausrüstung unterschiedlich - ein Problem, das sich aus dem Föderalismus und der Polizeihoheit der Länder ergibt.

Es tut sich etwas

Niedersachsens Innenminister Boris Pistorius (SPD) hat Jens Spahn entgegnet: "Bund und Länder tun gerade jetzt enorm viel für die innere Sicherheit, es gibt deutlich mehr Polizei, bessere Ausrüstung und viele neue Experten für Cybercrime oder Terrorismus. Deshalb ist es unsinnig, wenn ausgerechnet ein Minister der Union, die seit 2005 die Bundesinnenminister stellt, unseren Staat schlechtredet."

Tatsächlich ist die Trendwende zumindest eingeleitet. Laut "Zeit" haben die Bundesländer zwischen 2015 und 2017 rund 200 Millionen in Fahrzeuge, Waffen und Schutzausrüstung investiert.

Auch wird wieder eingestellt. Und Union und SPD kündigen in ihrem Koalitionsvertrag 15.000 neue Stellen für Polizisten an. Bis wann, das lassen sie allerdings offen.

Mit Material der dpa
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