Vor genau zwei Jahrzehnten übernahmen SPD und Grüne zum ersten Mal auf Bundesebene gemeinsam die Macht. Der damalige Umweltminister Jürgen Trittin spricht im Interview über das Erbe von Rot-Grün - und erklärt, warum diese Koalition heute so weit von einer Mehrheit entfernt ist.

Ein Interview

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Die Bundestagswahlen am 27. September 1998 besiegelten das Ende der Ära Kohl: Erstmals im Nachkriegsdeutschland wurde eine Regierung abgewählt, erstmals übernahmen SPD und Grüne gemeinsam die Macht im Bund.

Der damalige Grünen-Chef Jürgen Trittin wurde Bundesumweltminister. Was ist von Rot-Grün geblieben, 20 Jahre später? Und woran ist das Bündnis letztendlich gescheitert? Darüber haben wir mit ihm gesprochen.

Herr Trittin, wissen Sie noch, was Ihnen in der Wahlnacht 1998 durch den Kopf gegangen ist?

Jürgen Trittin: Ich habe mich gefreut, dass wir es geschafft haben. Wir hatten vier Jahre darauf hingearbeitet. Ich hatte 1994 als Parteisprecher das Ziel ausgegeben, dass wir 1998 Helmut Kohl ablösen wollen.

Hat Sie der Sieg dann trotzdem überrascht?

Ich hatte schon bei einer Reihe von Fernsehdiskussionen im Vorfeld den Eindruck, dass die CDU stehend k.o. war. Es hätte mich sehr gewundert, wenn es anders gekommen wäre. Ich fand allerdings die Souveränität, mit der Helmut Kohl am Wahlabend seine Niederlage eingeräumt hat, durchaus beeindruckend.

Hatten Sie nicht auch Respekt vor der Aufgabe? Immerhin mussten SPD und Grüne aus der Opposition heraus einen Regierungsapparat übernehmen, der 16 Jahre lang unter Schwarz-Gelb gearbeitet hatte.

Wir sind da eher mit fröhlicher Unbekümmertheit rangegangen. Joschka Fischer und ich meinten ja, schon Regierungserfahrung zu haben, weil wir mehrere Jahre auf Länderebene mitregiert hatten und das Bonner Geschäft kannten. Deswegen waren wir schon überrascht, wie viel wir noch zu lernen hatten.

Was meinen Sie damit konkret?

Auf Bundesebene wird man viel schärfer beobachtet. Der Lobbydruck etwa der Industrie ist riesengroß. Und wir mussten zum Teil viel existenziellere Entscheidungen treffen – und das gleich am Anfang. Man steht als Minister einfach vor größeren Herausforderungen.

Rot-Grün hat dann sieben Jahre lang regiert. Was ist Ihrer Meinung nach das wichtigste Erbe dieser Koalition?

Gesellschaftlich und politisch haben wir das Land geöffnet. Durch die gleichgeschlechtliche Partnerschaft, durch das Staatsangehörigkeitsrecht. Was aber entscheidend war und weit über Deutschland hinaus gewirkt hat, ist die Energiewende: mit dem Ausstieg aus der Atomenergie 2001 und dem Ausbau der erneuerbaren Energien.

Diese sind in der Folge so billig geworden, dass sie inzwischen in der ganzen Welt boomen. China investiert dieses Jahr über 100 Milliarden, selbst die USA rund 60 Milliarden Dollar in erneuerbare Energien, nur in Deutschland stehen wir plötzlich auf der Bremse - hier sanken die Investitionen auf 14 Milliarden Dollar. Das kostet Zehntausende von Arbeitsplätzen.

Und in der Außenpolitik?

Deutschland hat in der Welt an Ansehen gewonnen. Wir haben uns vor schwierigen Konflikten nicht weggeduckt, uns aber auch nicht in Glaubenskriege hineinziehen lassen. Das sehr selbstbewusste Nein zum Irak-Krieg 2003 hat uns international auch bei anderen Verhandlungen sehr viel Ansehen eingebracht.

Am Krieg im Kosovo hat sich die rot-grüne Bundesregierung 1999 aber sehr wohl beteiligt.

Das war für die Grünen sicherlich die schwierigste Phase, wir haben in dieser Zeit ungefähr die Hälfte unserer Wählerinnen und Wähler verloren. Aber bis 2002 haben wir sie mit der Politik der gesellschaftlichen Öffnung und der Energiewende wieder zurückgewonnen.

Die Neuwahlen 2005 hat Rot-Grün dagegen verloren - auch wegen der umstrittenen Arbeitsmarkt- und Sozialreformen der Agenda 2010.

Die Grünen haben ihr Ergebnis gehalten. Ich glaube nicht, dass uns diese Reformen die Mehrheit gekostet haben. Sie haben aber die SPD in einen solchen Konflikt getrieben, dass Gerhard Schröder am Ende aus Angst politischen Selbstmord beging und frühzeitig Neuwahlen ausrief. Das war nicht nötig.

Warum nicht?

Man hätte sich anschauen können, wie andere Länder - etwa Schweden und die Niederlande - schmerzhafte Reformen mit einer Gerechtigkeitsbotschaft versehen haben. Die haben auch die Reichen dafür herangezogen. Vieles von dem, was man hinterher gemacht hat, hätte man schon früher umsetzen können. Zum Beispiel den gesetzlichen Mindestlohn [der am 1. Januar 2015 eingeführt wurde; Anm.d.Red.].

Heute stehen SPD und Grüne in Umfragen zusammen bei etwas mehr als 30 Prozent. Offenbar ist diese Konstellation nicht mehr mehrheitsfähig.

Die SPD hat nach 2005 einen großen Teil ihrer Wähler verloren. Meiner Meinung nach war die Ursache die Rente mit 67, die Franz Müntefering durchgesetzt hat. Die hat der SPD mehr geschadet als die Hartz-IV-Reformen.

2008 kam die weltweite Finanzkrise hinzu. Die hat viele Menschen - gerade in der Mitte der Gesellschaft - in Angst und Schrecken versetzt. Dass die damalige große Koalition dann gesagt hat, die einzelnen Staaten sollen mit den Folgen alleine fertig werden, hat dem Nationalismus richtig Aufschwung gegeben.

Eine Machtperspektive hätte Ihre Partei heute vor allem über eine Dreier-Koalition, zum Beispiel mit Union und FDP: Wäre das Regieren heute schwieriger als vor 20 Jahren?

Das Problem ist: Es gibt keine demokratische linke und keine demokratische rechte Mehrheit mehr - weder Rot-Rot-Grün noch Schwarz-Gelb haben eine Mehrheit. Mit der Bildung einer nationalistischen und rassistischen Partei wie der AfD sind die übrigen Parteien gezwungen, lagerübergreifende Koalitionen einzugehen.

Das macht zumindest die Regierungsbildung schwieriger. Ob es auch das Regieren schwieriger macht, dazu gibt es unterschiedliche Erfahrungen. Ich höre aus Hessen und Rheinland-Pfalz zum Beispiel, dass Schwarz-Grün beziehungsweise die Ampel-Koalition dort ganz gut funktionieren.

Zur Person: Jürgen Trittin war von 1994 bis 1998 Bundessprecher von Bündnis90/Die Grünen. Von 1998 bis 2005 war er in der rot-grünen Bundesregierung Minister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit. Auch danach blieb der Vertreter des linken Flügels einer der einflussreichsten Politiker seiner Partei.
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