• Christo Grozev ist einer der bekanntesten Investigativjournalisten der Welt. Seine Recherchen brachten zahlreiche Lügen aus dem Kreml ans Tageslicht.
  • Es gibt aber auch Kritik an seinen Methoden.
  • Seit einigen Tagen wird er in Russland per Haftbefehl gesucht.
Ein Porträt
Dieser Text enthält neben Daten und Fakten auch die Einschätzungen von Adrian Arab sowie ggf. von Expertinnen oder Experten. Informieren Sie sich über die verschiedenen journalistischen Textarten.

Wenn es um den Einsatz von Wagner-Truppen in Syrien ging, den Absturz der Passagiermaschine MH-17 über der Ostukraine oder die Giftmischer im Fall Skripal: Wann immer in den letzten Jahren verschleierte russische Anschläge, Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen als solche enttarnt wurden, steckte meist eine Plattform dahinter: das internationale Recherchekollektiv Bellingcat.

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Nun ist einer der bekanntesten Rechercheure der Plattform, zugleich Geschäftsführer und Verantwortlicher für das Thema Russland, auf eine russische Fahndungsliste geraten: Christo Grozev. Das Innenministerium in Moskau hat einen Haftbefehl auf den Bulgaren ausgestellt, wobei wohl kaum einem so richtig klar sein dürfte, warum.

Das bulgarische Außenministerium bestellte die russische Botschafterin in Sofia, Eleonora Mitrofanowa, ein, die nach dem Gespräch wiederum erklärte, Grozev werde "nicht in der ganzen Welt" gesucht. "Es besteht keine Gefahr für ihn, er kann dort weiter leben, wo er gerade ist." Er solle nur niemals nach Russland kommen. Grozev, der in Wien lebt, kommentierte die Aussage ironisch: "Braucht jemand zwei Bolschoi-Tickets für den Neujahrsball? Muss in letzter Minute stornieren", erklärte er auf Twitter. Wo genau er sich aktuell aufhält, ist nicht bekannt. Im Gespräch mit dem bulgarischen Sender Nova TV gab er lediglich an, nicht in Europa zu sein.

Der Fall ist also reichlich dubios und die Hintergründe weitgehend unklar. Die staatliche russische Nachrichtenagentur RIA Nowosti spekulierte, Russland werfe Grozev vor, Fake News verbreitet zu haben. Grozev selbst glaubt hingegen, er sei wegen seiner Recherchen zum Ukraine-Krieg unter ein neues Zensurgesetz, das Russland kurz nach dem Angriff auf die Ukraine erlassen hat, gefallen. Was weithin unbestritten ist: Der russischen Führung ist der in Plowdiw geborene Kommunikationswissenschaftler mit Abschlüssen in internationalem Recht und Wirtschaft ein Dorn im Auge.

Grozev landete zahlreiche journalistische Coups

Das liegt zum einen daran, dass Grozev und seine Leute mit einem revolutionären Rechercheansatz in den letzten Jahren den Kreml und seine nachgeordneten Behörden der Lüge überführt und auf diese Weise mehrere journalistische Coups gelandet haben. Die Rechercheure sind die derzeit wichtigsten Vertreter einer neuen Art von Daten-Journalismus, der sich auf öffentlich zugängliche Informationen stützt, also sogenannte "Open-Source-Intelligence" (OSINT).

Statt Informationen auf dem Schwarzmarkt oder von dubiosen Quellen anzukaufen, wertet das spendenfinanzierte Kollektiv Satellitenbilder, Geodaten und Posts in sozialen Netzwerken aus. Das ist besonders im Ukraine-Krieg wertvoll, weil der Konflikt mehr "Open Data" enthält als jeder Krieg zuvor. Und der Ansatz schafft Vertrauen, weil die Informationen für das Publikum transparent und überprüfbar sind. Geheimdienste und Regierungen, für die die Bellingcat-Recherchen oftmals höchst unangenehm sind, können diese jedenfalls schwer als Desinformation abtun.

Für die Nachrichtendienste, die sich vor allem in westlichen Ländern immer engeren juristischen Fesseln gegenübersehen, ist die OSINT-Recherche aber auch deshalb unangenehm, weil die Technik der Informationsbeschaffung aus ihrer Welt stammt. Nur eben für den Journalismus adaptiert. Dazu kommt: Im Zeitalter des Internets ist es Armeen und Geheimdiensten beinahe unmöglich, den eigenen Leuten Social Media und Chats zu verbieten. Die Spielwiese für Leute wie Grozev ist somit riesig - und sie trifft die Organisationen an ihrer empfindlichsten Stelle.

Nawalny-Recherche machte Grozev weltbekannt

Grozev, zuständig für die Russland-Recherchen der Plattform, sind dank OSINT-Recherchen immer wieder internationale "Scoops" gelungen, wie man im Journalisten-Jargon einen Volltreffer nennt. Seine Leute wiesen nach, dass das russische Militär für den Abschuss des Malaysia-Airlines-Fluges MH17 über der Ostukraine mit 298 Toten verantwortlich war. Sie enthüllten die Identität der Attentäter, die den russischen Ex-Agenten Sergej Skripal 2018 fast mit dem Nervengift Nowitschok getötet hatten.

Und gemeinsam mit Journalisten des "The Insider" und des "Spiegel" lokalisierten sie jene russische Militäreinheit, die Raketen programmiert hatte, die auf zivile Ziele in der Ukraine abgeschossen wurden. Damit waren russische Kriegsverbrecher identifiziert. All diese Recherchen fügten Russlands ohnehin ramponiertem Image in der Welt empfindliche Schäden zu.

In den letzten Jahren profilierte sich der 53-Jährige immer stärker als der öffentlich wahrnehmbarste Bellingcat-Ermittler. Er gab Interviews, trat in Podcasts auf und erklärte seine Recherchen in Fernsehinterviews. Als eigene Marke wurde er einer größeren Öffentlichkeit spätestens für seine Recherchen im Fall Alexej Nawalny bekannt, die zur Enttarnung jener Leute führten, die den russischen Oppositionellen 2020 vergiftet hatten. Grozev hatte Anruflisten des Leiters des Moskauer Signal-Instituts angekauft, einem der wenigen Hersteller des gefährlichen Kampfstoffes Nowitschok.

In diesen Listen soll Grozev auffällige Kontakte gefunden haben, die er mit Passagierlisten von Flügen abglich, die etwa zur gleichen Zeit wie die Maschine von Nawalny von Moskau nach Nowosibirsk gingen. Einige dieser Verdächtigen ließ er von Nawalny mit manipulierter Nummer und unter der Vorspielung einer falschen Identität anrufen, wie Grozev unter anderem im Gespräch mit "tagesanzeiger.ch" erzählte. Ein Wissenschaftler des FSB fiel darauf herein und verriet Täterwissen. Nawalny und Grozev stellten Ausschnitte des Gesprächs, bei dem Nawalny mit den vermutlich auf ihn angesetzten Killern telefonierte, ins Internet. Der Clip wurde zum internationalen Medienereignis, Russland war abermals blamiert.

Gleichzeitig sind es Recherchen wie diese, die Grozev angreifbar machen. Der Bulgare erzählte zuletzt, dass er vermehrt Daten auf dem russischen Schwarzmarkt ankauft, weil Passagierlisten oder Telefondaten nicht öffentlich sind.

Doch will es Bellingcat nicht anders machen, nämlich eben nicht mit grauem Material arbeiten, sondern auf Basis nachprüfbarer, öffentlich zugänglicher Kanäle?

Kritik an Grozevs Recherchemethoden

Auch der russische Geheimdienst beschuldigte Grozev immer wieder, sich mit westlichen Geheimdiensten gemein zu machen. Im Juli 2022 warf der russische Inlandsgeheimdienst FSB beispielsweise Grozev vor, dieser habe einen Versuch des ukrainischen Geheimdienstes koordiniert, um russische Piloten mit Geld dazu zu bringen, mit ihren Kampfflugzeugen auf ukrainisches Territorium zu fliehen.

"Dabei handelte es sich um eine nach ukrainischem Gesetz völlig legitime Operation, zu der wir von Bellingcat einen Dokumentarfilm gedreht haben, der früher oder später herauskommen wird“, wird Christo Grozev dazu von einem anderen Medium zitiert. Vorwürfe aus Russland konterte er bislang mit dem Argument, Russland sei es in den letzten Jahren nicht gelungen, ihm solche Verbindungen mit Bildmaterial oder abgefangenen Emails nachzuweisen: "Wenn die Russen es könnten, würden sie es tun, denn es wäre ihre Gelegenheit ein für allemal Schluss zu machen mit Bellingcat und diesem Grozev."

Die Wege von Grozev und dem Mann, den Bellingcat mit den Recherchen wohl am meisten provoziert, könnten sich übrigens Mitte der 90er Jahre in St. Petersburg gekreuzt haben. Wladimir Putin war zu diesem Zeitpunkt Vizebürgermeister der Stadt und Grozev wollte in der Metropole für den US-amerikanischen Sender Eldoradio einen Sender aufbauen, wofür er eine Genehmigung von der Stadt brauchte. Die Lizenz, die Grozev damals bekam, soll die Unterschrift von Putin enthalten.

Später ging Grozev nach Wien, wo er an der Wiener Privatuniversität IMADEC studierte und das Medieninvestitions-Unternehmen "BG Privatinvest" betrieb. Mit dieser Organisation kauften Grozev und sein Geschäftspartner mehrere Tageszeitungen in Sofia, um - nach eigener Aussage - den Investigativjournalismus nicht den Oligarchen zu überlassen. Doch das Vorhaben scheiterte und Grozev konzentrierte sich in den Folgejahren vorrangig um seine Karriere als Journalist.

Heute lebt Grozev, der schon in den letzten Jahren von Bodyguards beschützt wurde, an einem geheimen Ort. In Telegram-Gruppen, so erzählte er es zuletzt in Interviews, soll zum Mord an ihm aufgerufen worden sein. Man solle mit ihm das machen, was man der ermordeten Kriegspropagandistin Darja Dugina angetan habe: ihn mit einer Autobombe in die Luft jagen.

Verwendete Quellen:

  • datum.at: Der Aufklärer
  • nova.bg: Christo Grozev: Ich habe Angst vor Mord oder Entführung
  • Twitter-Account von Christo Grozev
  • Nachrichtenseite Bellingcat
  • tagesanzeiger.ch: Interview mit Christo Grozev
  • euronews.com: Investigative journalist Christo Grozev added to Russian 'wanted list'
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