Dem WikiLeaks-Gründer Julian Assange drohen in den USA 175 Jahre Haft. In Deutschland fordern mehr als 130 Prominente seine Freilassung aus britischer Haft. Sie befürchten einen für Journalisten und Whistleblower gefährlichen Präzedenzfall.

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Die Botschaft ist deutlich: Unter den gegenwärtigen Haftbedingungen könne Julian Assange weder gesund werden noch sich auf sein Auslieferungsverfahren vorbereiten. Das steht in einem Appell, den Anfang Februar mehr als 130 Persönlichkeiten aus dem deutschsprachigen Raum unterzeichnet haben – darunter der frühere Bundesaußenminister Sigmar Gabriel, der Journalist Günter Wallraff und die Schriftstellerin Elfriede Jelinek.

Sie werfen britischen Behörden "Verstöße gegen menschenrechtliche und rechtsstaatliche Grundprinzipien" im Falle des Gründers und früheren Sprechers der Enthüllungsplattform WikiLeaks vor. Assange sei "erheblichen Leiden und gesundheitlichen Risiken" ausgesetzt.

Der internationale Protest setzte sich am Dienstag fort. In London haben Politiker, Juristen und Angehörige eindringlich die Freilassung von Assange gefordert, darunter der WikiLeaks-Chefredakteur Kristinn Hrafnsson. "Das ist ein politischer Fall", kritisierte der Isländer. "Seit Jahren wird uns Schaden, Schaden, Schaden vorgeworfen. Aber für mich ist das Journalismus".

Zudem verlangten australische Politiker Assange in sein Heimatland zu lassen: "Assange ist ein Unruhestifter, aber er ist unser Unruhestifter."

"Symptome psychologischer Folter"

Der 48-jährige Australier beschäftigt seit mehr als einem Jahrzehnt die Weltöffentlichkeit – jetzt hat sich sein Fall zugespitzt: Der Journalist sitzt im Londoner Hochsicherheitsgefängnis Belmarsh, Ärzte schätzen seinen Gesundheitszustand als bedrohlich ein.

Der UNO-Sonderberichterstatter Nils Melzer sagte dem Schweizer Digitalmagazin "Republik.ch": Assange habe einst die Folter von Kriegsgefangenen aufgedeckt. Jetzt werde er so misshandelt, "dass er heute selbst Symptome von psychologischer Folter aufzeigt".

"Selbst wenn man die Person Assange kritisch sieht, ist doch festzustellen: Es ist menschenunwürdig, wie er behandelt wird", sagt der Politikwissenschaftler Christian Hacke im Gespräch mit unserer Redaktion. Der emeritierte Professor der Universität Bonn gehört zu den Erstunterzeichnern des Aufrufs.

Inzwischen hat sich der Gesundheitszustand des 48-Jährigen aber etwas gebessert. Sein Sohn könne Sport in dem Hochsicherheitsgefängnis machen und sei auch an der frischen Luft, sagte Assanges Vater John Shipton. "Es sind vier Wände mit einem Gitter oben drauf, und man kann im Regen stehen."

Mit WikiLeaks zum Staatsfeind geworden

Zur Erinnerung: Assange ist seit 2006 für WikiLeaks aktiv. Im April 2010 erschien dort das "Collateral-Murder-Video". Es zeigt, wie Piloten eines US-Militärhubschraubers 2007 in Bagdad unbewaffnete Zivilisten töten. Im Oktober 2010 folgte die Veröffentlichung von rund 390.000 streng geheimen Dokumenten zum Irak-Krieg, die auf geschönte Opferzahlen und von den USA verübte Kriegsverbrechen hinwiesen. Assange soll die Ex-Soldatin und Whistleblowerin Chelsea Manning angetrieben haben, die Dokumente zu beschaffen.

Der Australier wurde damit zum Staatsfeind der USA. Als die schwedische Staatsanwaltschaft zudem wegen Vergewaltigungsvorwürfen gegen ihn ermittelte, flüchtete er 2012 in die Botschaft Ecuadors in London. Dort lebte er bis zum April 2019, als der neue ecuadorianische Präsident den ungeliebten Gast an die britische Polizei übergeben ließ. Seitdem wartet Assange in Haft auf die Entscheidung, ob er an die USA ausgeliefert wird. Am 25. Februar sollen die Anhörungen beginnen.

Pressefreiheit schützt Journalisten

Sorgen machen sich die Unterzeichner des Appells auch um die Folgen für die Pressefreiheit und die Arbeit von Whistleblowern. "Das drohende Verfahren gegen Assange dient allein der Einschüchterung und der Abschreckung", sagt die Journalistin Annegret Falter, Vorsitzende des Whistleblower-Netzwerks in Deutschland.

Die Pressefreiheit gilt als Pfeiler einer funktionierenden Demokratie. Sie räumt Journalisten das Recht ein, auch gegen den Willen von Regierungen Informationen zu veröffentlichen, um Missstände aufzudecken. In den USA sichert sogar die Verfassung das Recht, auf illegale Weise beschaffte Dokumente zu veröffentlichen.

Trotzdem gehen die USA rigide gegen Whistleblower und Journalisten, die mit ihnen zusammenarbeiten, vor. Das galt bereits für die Administrationen von George W. Bush und Barack Obama – in besonderem Maße aber für die aktuelle Regierung unter Präsident Trump. Dessen Vorgänger Obama hatte die Whistleblowerin Chelsea Manning noch begnadigt – inzwischen sitzt sie wieder in Beugehaft. Sie soll so gezwungen werden, im Verfahren gegen Assange auszusagen.

Vorwurf der Spionage

Angeklagt ist Assange unter anderem wegen Verstoßes gegen ein Anti-Spionage-Gesetz, das die USA 1917 eingeführt haben, um gegen Agenten befeindeter Staaten vorzugehen. Ihm drohen bei einer Verurteilung 175 Jahre Haft. Assange soll dabei geholfen haben, sensible Staatsgeheimnisse zu verraten, lautet der zentrale Vorwurf. Der heutige Außenminister und damalige CIA-Direktor Mike Pompeo hat 2017 deutlich gemacht, was er von Wikileaks hält: Er bezeichnete die Plattform als "nichtstaatlichen feindlichen Geheimdienst" – und rückte sie in die Nähe islamistischer Terrororganisationen.

Den Umgang der Behörden mit Assange nannte sein Vater "Folter". "Unter hartgesottenen Kriminellen im Belmarsh-Gefängnis gibt es tatsächlich mehr Menschlichkeit als draußen", sagte John Shipton. Sollte sein Sohn an die USA ausgeliefert werden, wäre das ein Todesurteil.

"Wir sehen im Fall Assange nicht die Voraussetzungen für ein faires und neutrales Verfahren gegeben", erklärte Thomas Kastning, Geschäftsführer des Whistleblower-Netzwerks. Auch Politikwissenschaftler Hacke zweifelt an der Rechtsstaatlichkeit eines möglichen Verfahrens gegen Assange – ausgerechnet im demokratischen Rechtsstaat USA: "Das ist erschreckend – vor allem für einen alten Atlantiker wie mich", sagt Hacke. "Es lässt sich am ehesten mit einem Moment der Rache erklären: Die Geheimdienste möchten damit auch andere Whistleblower abschrecken."

"Ein Versuch, die Presse einzuschüchtern"

Julian Assange ist eine schillernde Figur, seine Arbeit hat immer auch Kritik hervorgerufen. WikiLeaks wird unter anderem Nähe zu Russland vorgeworfen, Enthüllungen im US-Präsidentschaftswahlkamp 2016 schadeten zudem der demokratischen Kandidatin Hillary Clinton. Allerdings haben die Veröffentlichungen von WikiLeaks Missstände aufgedeckt – auch in Deutschland wurden sie von namhaften Medien wie dem "Spiegel" aufgegriffen.

Experten befürchten deshalb Folgen: für Whistleblower, die brisante Informationen herausgeben, genau wie für Journalisten, die sie veröffentlichen. "Das ist ganz klar ein Versuch, die Presse einzuschüchtern und journalistische Arbeit zu behindern", sagt Thomas Kastning vom Whistleblower-Netzwerk.

Der gemeinnützige Verein berät unter anderem Menschen, die Missstände aufdecken wollen. In Deutschland hatten zwei Mitarbeiter eines Apothekers zum Beispiel 2018 einen Medikamentenskandal ans Licht gebracht: Ihr Chef hatte Krebsmedikamente gestreckt und sich so bereichert. Hierzulande befürchten Informanten häufig vor allem arbeitsrechtliche Folgen, es geht weniger um eine Verfolgung durch den Staat. Zudem ist Assange eigentlich selbst kein Whistleblower – er hat geheime Dokumente in erster Linie veröffentlicht. Trotzdem sei der Extremfall auch für viele Whistleblower hierzulande ein Thema, sagt Kastning.

Für ihn steht außer Frage, dass die Veröffentlichung von Geheimdokumenten wie im Fall Assange wichtig ist. "Wir müssen uns doch fragen: Was würde eigentlich passieren, wenn wir solche Informationen nicht mehr bekommen?", so Kastning. "Wäre das angesichts der vielen Konflikte, die es auch derzeit im Nahen Osten gibt, nicht nötiger denn je?"

Verwendete Quellen:

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