Vom 12. bis 23. Juni findet über Deutschland die größte Luftübung in der Geschichte der Nato statt. 220 Militär-Flugzeuge werden am Himmel unterwegs sein – wahrnehmbar auch für viele Menschen. Die wichtigsten Fragen und Antworten zu "Air Defender 23".

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Über den Wolken wird ab 12. Juni einiges los sein. Zehn Tage lang üben Soldaten und Soldatinnen aus 25 Staaten im Luftraum über Deutschland die Verteidigung gegen einen feindlichen Angriff. Bei denjenigen, die es damals miterlebt haben, könnte die Großübung "Air Defender 23" Erinnerungen an den Kalten Krieg wecken: In den 70er- und 80er-Jahren fanden diese zum Teil sicht- und hörbaren Übungen regelmäßig statt.

Nun kommt es erstmals seit 1994 wieder zu einer Großübung. Das sagt einiges aus über die politische Lage in Europa und die wieder wachsende Bedeutung des Verteidigungsbündnisses. Man müsse gewappnet sein für den Fall eines feindlichen Angriffs, heißt es aus Militär und Politik. Doch es gibt auch Kritik an der Veranstaltung.

Was ist "Air Defender 23"?

Der Bundeswehr zufolge ist Air Defender 23 die "größte Verlege-Übung von Luftstreitkräften seit Bestehen der Nato". Vom 12. bis 23. Juni trainieren bis zu 10.000 Armeeangehörige aus 25 Staaten mit 220 Flugzeugen Luftoperationen im europäischen Luftraum. Allein 100 der 220 Flugzeuge werden aus den USA nach Europa geschickt.

Zur Zeit des Kalten Kriegs fanden diese gemeinsamen Flugmanöver der Nato-Staaten noch regelmäßig statt – unter dem Namen "Cold Fire" oder "Reforger". Die umfangreichste Übung bisher war der Bundeswehr zufolge die "Reforger"-Übung 1988. Auf dem Höhepunkt des Kalten Kriegs flogen Flugzeuge damals rund 188.000 Soldaten und Tausende Tonnen Material über den Atlantik.

Was genau wird geübt?

Geübt wird ein "Artikel-5-Beistandsszenario" – also der Fall eines bewaffneten Angriffs auf einen Mitgliedsstaat des Verteidigungsbündnisses Nato. Laut Artikel 5 des Nato-Vertrags müssen die anderen Mitglieder dem angegriffenen Staat in diesem Fall beistehen.

"Wir üben defensive Szenarien, den Schutz vor kritischer Infrastruktur, Häfen, Städten oder Truppen, die von einem potenziellen Gegner angegriffen werden könnten", sagte Ingo Gerhartz, Generalleutnant der Luftwaffe der Bundeswehr, vor kurzem im Interview mit dem Tagesspiegel. Trainiert werden zum Beispiel Aufklärungsflüge und die Betankung von Flugzeugen in der Luft. Allerdings stehen auch simulierte Luftkämpfe zwischen Kampfjets auf dem Programm.

Welche politische Bedeutung hat die Großübung?

Das Ziel besteht einerseits darin, die Zusammenarbeit zwischen den Luftstreitkräften der Teilnehmer-Staaten zu verbessern und die vorhandene Technik zu testen. Zudem will das Verteidigungsbündnis nach außen hin Stärke demonstrieren.

Entstanden ist die Idee schon vor dem russischen Überfall auf die Ukraine im Februar vergangenen Jahres – nämlich 2018. Nun ist in direkter Nachbarschaft der Nato tatsächlich ein Krieg ausgebrochen. "Die Geschichte hat uns eingeholt", sagt Marie-Agnes Strack-Zimmermann (FDP), Vorsitzende des Verteidigungsausschusses des Bundestags, im Gespräch mit unserer Redaktion.

Von einem neuen Kalten Krieg will Strack-Zimmermann nicht sprechen. "Wir haben einen heißen Krieg von Russland gegen die Ukraine. Damit ist passiert, wovor uns unsere osteuropäischen Partner immer gewarnt haben", sagt sie. Übungen wie Air Defender sind aus ihrer Sicht immer auch ein Signal an das Gegenüber: "Man zeigt damit, was man alles kann."

Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg sagte gegenüber dem ZDF, der russische Angriffskrieg dürfe nicht über die Ukraine hinaus eskalieren. "Und deshalb ist es wichtig, dass wir jeden Raum für Missverständnisse beseitigen – dass wir keine Fehleinschätzungen in Moskau zulassen, was die Bereitschaft der Nato betrifft, jeden Zentimeter des Nato-Territoriums zu verteidigen."

Aus Sicht von Marie-Agnes Strack-Zimmermann ist "Air Defender 23" auch für die deutsche Landesverteidigung von Bedeutung. "Das ist eine wichtige Übung, die sein muss, um sich auf Gefahrenszenarien vorzubereiten. Angriffe auf Staatsgebiet finden heute in vielen Fällen aus der Luft statt", sagt die Bundestagsabgeordnete. "Diese Gefahrenszenarien haben wir in Deutschland in der Vergangenheit nicht mehr genug auf dem Schirm gehabt."

Welche Staaten nehmen an Air Defender teil und welche Rolle spielt Deutschland?

Von den 25 teilnehmenden Staaten sind 23 Staaten Mitglied der Nato. Hinzu kommen Nato-Beitrittskandidat Schweden sowie Japan.

Deutschland spielt eine zentrale Rolle bei Air Defender: Die Bundesrepublik hat die Großübung 2018 angeschoben und danach geplant. Sie findet nun auch unter deutscher Führung statt. "Deutschland ist das Drehkreuz für die Unterstützung der Länder an der Ostflanke der Nato", sagt Verteidigungspolitikerin Strack-Zimmermann.

Wo genau spielen sich die Luftübungen ab?

Die meisten Flugzeuge werden von vier deutschen Standorten und jeweils einem niederländischen und tschechischen Standort starten:

  • Jagel/Hohn (Schleswig-Holstein)
  • Wunstorf (Niedersachsen)
  • Lechfeld (Bayern)
  • Spangdahlem (Rheinland-Pfalz)
  • Volkel (Niederlande)
  • Caslav (Tschechische Republik)

Rund 90 Prozent des Flugverkehrs sollen der Nachrichtenagentur AFP zufolge in Deutschland und den angrenzenden Küstengebieten der Nord- und Ostsee stattfinden. Die drei Übungslufträume befinden sich über dem Südwesten, Nordwesten und Osten Deutschlands. Geplant sind aber auch tägliche Missionen mit Hin- und Rückflügen Richtung Nordost- und Südosteuropa.

© dpa-infografik GmbH

"Nur vereinzelt" würden Luftbewegungen nahe der Grenze zu Russland stattfinden, sagte Luftwaffen-Inspekteur Gerhartz dem Tagesspiegel: "Es wäre sicherlich eine Provokation, wenn wir simulieren würden, wie wir Missionen etwa in Richtung Kaliningrad fliegen. Das tun wir aber nicht."

Welche Lärmbelastung geht von "Air Defender 23" aus?

Die Bundeswehr teilt mit, dass es im Übungszeitraum zwischen 12. und 23. Juni zu erhöhtem Fluglärm in Teilen Deutschlands kommen kann. Das gilt insbesondere für das Umfeld der Standorte in Wunstorf (Niedersachen) und Jagel (Schleswig-Holstein). Dort werden deutlich mehr Flugzeuge als üblich starten und landen.

Die Übungen sollen im Schwerpunkt über dünnbesiedelten Gebieten stattfinden. Die drei Übungsräume liegen in Höhe zwischen 2.500 und 15.000 Metern (und höher). Übungsflüge von Kampfjets sollen sich demnach in mindestens 3000 Metern Höhe abspielen. Tiefflüge von Jets und Transportmaschinen sind in einem Teil des östlichen Luftübungsraumes über Mecklenburg-Vorpommern, dem nördlichen Brandenburg und der Ostsee geplant.

Welchen Einfluss hat die Übung auf den zivilen Flugverkehr?

Die drei Übungslufträume werden für den militärischen Luftverkehr reserviert (sprich: für zivile Flugzeuge gesperrt) – allerdings nacheinander: Der Übungsraum Ost ist an Werktagen zwischen 10 und 14 Uhr, der Übungsraum Süd zwischen 13 und 17 Uhr und der nördliche Übungsraum zwischen 16 und 20 Uhr gesperrt. Am Wochenende 17./18. Juni sollen keine Übungen stattfinden.

Der Bundeswehr zufolge haben Simulationen der Europäischen und der Deutschen Flugsicherung ergeben, dass nicht mir Ausfällen von Flugverbindungen zu rechnen ist – allerdings mit Verzögerungen.

Der Chef der Deutschen Flugsicherung, Arndt Schoenemann, erläuterte gegenüber der Deutschen Presse-Agentur, es werde wegen Umleitungen von Flügen um die gesperrten Bereiche zu Verspätungen kommen. Die meisten Flüge dürften aber pünktlich sein. Geplant werde mit deutlich mehr Fluglotsen. Von Flugstreichungen sei derzeit nicht auszugehen.

Gibt es auch Kritik an der Übung?

Die Linke ist nicht begeistert von "Air Defender 23": "Verteidigungsfähigkeit ist zwingend, aber hier liegt wenig 'defender', sondern viel Säbelrasseln in der Luft", sagt Dietmar Bartsch, Vorsitzender Linksfraktion im Deutschen Bundestag, gegenüber unserer Redaktion. "Diese Manöver sollen auch einen Beitrag gegen eine 'kriegsmüde' Bevölkerung leisten, vor der die Bundesregierung fatalerweise warnt."

Bartsch betont: Es war "Putins verbrecherischer Krieg", der dem einst für "hirntot" erklärten Verteidigungsbündnis Nato zu einem Revival verholfen hat. Die Großübung sieht er trotzdem kritisch: "Statt neuen Signalen der Konfrontationsbereitschaft braucht es eine europäisch abgestimmte Friedensinitiative. Nur das kann den Weg ebnen, um nicht immer mehr Milliarden für die Aufrüstung der Bundeswehr auszugeben."

Verwendete Quellen:

  • Gespräch mit Marie-Agnes Strack-Zimmermann
  • Schriftliches Statement von Dietmar Bartsch
  • afp
  • dpa
  • bundeswehr.de: Air Defender 23
  • bundeswehr.de: Air Defender 23 und seine Ahnen – Rückschau auf Übungen zur Verteidigung Europas
  • nato.int: Der Nordatlantik-Vertrag
  • tagesspiegel.de: Luftwaffen-Inspekteur Ingo Gerhartz: "Wir brauchen mehr Einsatzmentalität"
  • zdf.de: Nato-Beitritt der Ukraine: Stoltenberg: Alle einig - auch Deutschland
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