Die AfD macht derzeit vor allem mit Streit auf sich aufmerksam. Die Auflösung des "Flügels" hat die innerparteiliche Machtverteilung nicht geklärt, selbst die frühere Führungsfigur Gauland steht in der Kritik. Für einen Abgesang auf die Partei dürfte es aber zu früh sein.

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Egal wohin man blickt - ob in den Norden oder Süden oder ins Zentrum der Macht: Es herrscht Unruhe in der AfD. In den Landtagen von Schleswig-Holstein und Niedersachsen hat sie nach Austritten von Abgeordneten ihren Fraktionsstatus verloren.

In Bayern stellt sich eine Mehrheit gegen den eigenen Fraktionsvorstand. Der rheinland-pfälzische Landesvorsitzende Uwe Junge zweifelt sogar an den Vorsitzenden der Bundestagsfraktion: Die "Süddeutsche Zeitung" zitiert aus einem internen Brief, in dem er den Rücktritt von Alice Weidel und Alexander Gauland fordert. Die AfD bewege sich "schulterklopfend auf den politischen Abgrund zu".

Warum brechen diese Konflikte in der AfD gerade jetzt auf? Nach Einschätzung des Politikwissenschaftlers Wolfgang Schroeder von der Universität Kassel kommen gleich mehrere Gründe zusammen.

"Man muss bedenken, dass die AfD eine junge Partei ist, die eine siebenjährige Erfolgsgeschichte hinter sich hat. Da treten gegenwärtig Ermüdungsmomente auf", sagt Schroeder im Gespräch mit unserer Redaktion.

Die wenigen Wahlen in diesem Jahr fielen für die AfD eher enttäuschend aus, zudem steht ihr zentrales Thema - die Flüchtlingspolitik - derzeit kaum im Mittelpunkt. "Die AfD muss sich jetzt damit arrangieren, dass sie an Aufmerksamkeit eingebüßt hat", sagt Schroeder. "Es ist für die Partei schwieriger geworden, von Erfolg zu Erfolg zu eilen - und das hat negative Auswirkungen auf den Zusammenhalt."

Gauland in der Defensive

Hinzu komme Führungslosigkeit, sagt Schroeder. "Die AfD hat kein wirkliches Steuerungszentrum, an dem sich alle orientieren können. Auch Alexander Gauland, der vielleicht als einziger in der Lage war, Brücken zwischen den Flügeln zu bauen, ist im politischen Alltag keine Führungspersönlichkeit."

Derzeit ist unklar, ob der 79-Jährige 2021 noch einmal für den Bundestag kandidiert. Zudem steht er in der Affäre um den früheren Fraktionssprecher Christian Lüth in der Kritik. Die Fraktion hatte ihn bereits im Frühjahr suspendiert. Erst als durch eine Fernsehdokumentation bekannt wurde, dass Lüth über das Erschießen und Vergasen von Migranten sinniert haben soll, wurde er endgültig entlassen. Recherchen von "Zeit Online" zufolge soll Gauland aber schon im April von diesen Äußerungen gewusst haben.

Konrad Adam, 2013 Mitbegründer der AfD, hat der Partei inzwischen den Rücken gekehrt. In einem Gastbeitrag für das konservative Magazin "Cicero" warf Adam seinem früheren Weggefährten Gauland vor, dieser habe sich zum "Schutzengel" der radikalen Kräfte aufgeschwungen. Zudem prangerte er den inneren Zustand der Partei an: "Wer wissen will, wie es im Naturzustand, wo jeder jeden bekämpfte, zugegangen sein mag, sollte sich in der AfD umsehen."

"Flügel"-Auflösung macht Lage noch unklarer

Viele Zerwürfnisse spiegeln den innerparteilichen Konflikt zwischen radikalen Kräften und den angeblich Moderaten wider. In Niedersachsen zum Beispiel war die Landesvorsitzende Dana Guth, die sich selbst als gemäßigt einschätzt, im September abgewählt worden.

Stattdessen entschied sich eine Mehrheit für den Bundestagsabgeordneten Jens Kestner, der zum offiziell aufgelösten völkisch-nationalistischen "Flügel" gehören soll. Guth revanchierte sich, indem sie mit zwei Kollegen die Landtagsfraktion verließ.

Die Ankündigung des Verfassungsschutzes, Teile der Partei beobachten zu lassen, hat den Konflikt nach Ansicht von Experten noch verstärkt. Politikwissenschaftler Schroeder spricht von zwei Lagern: Die "Bewegungsorientierten" um den radikalen ehemaligen "Flügel" stehen den "Parlamentsorientierten" gegenüber, die eher auf einen pragmatischeren Kurs setzen.

Dieser Grundkonflikt sei nach wie vor nicht geklärt, sagt Schroeder. Dass sich der "Flügel" um den Thüringer Björn Höcke in diesem Jahr offiziell aufgelöst hat, habe nicht zur Klärung beigetragen. Im Gegenteil: "Durch die Auflösung des "Flügels" ist die Situation sogar noch unübersichtlicher geworden. Diejenigen, die der Partei die größte Aufmerksamkeit und Profilierung beschert haben, sollen jetzt nicht mehr präsent sein. Gleichzeitig sind sie weiterhin an Bord, haben tragfähige Netzwerke und werden neue Möglichkeiten suchen."

Jörg Meuthen: Erfolg und Niederlage

Wie widersprüchlich die Lage ist, zeigt sich auch an der Person des Co-Parteivorsitzenden Jörg Meuthen. Der hat es gegen starke Widerstände geschafft, den Brandenburger Landesvorsitzenden und "Flügel"-Kopf Andreas Kalbitz aus der Partei zu werfen. Zudem ist Meuthen dafür zuständig, in den Medien die extremen Äußerungen seiner Parteifreunde zu relativieren oder kleinzureden.

"Jörg Meuthen kann man als eine Ikone der Selbstverharmlosung bezeichnen. Er hat für die Außenwahrnehmung eine herausragende Position eingenommen, was ihm enorme Macht verliehen hat", sagt Wolfgang Schroeder. "Das wird aber nicht von seiner Präsenz und Akzeptanz innerhalb der Partei abgedeckt."

Auf Meuthens innerparteilichen Erfolg folgte zugleich eine Niederlage: Er verzichtet im kommenden Jahr auf eine Kandidatur für den Bundestag. Mehrere Medien zitierten aus einem Schreiben, wonach er es als seine "erste und wichtigste Aufgabe" ansieht, sich auf seine Arbeit im Europaparlament zu konzentrieren.

Allerdings verfügt der Bundesvorsitzende auch über wenig Rückhalt in seinem baden-württembergischen Landesverband, der inzwischen von Fraktionschefin Alice Weidel geführt wird. Anfang des Jahres hatte Meuthen sogar seinen Kreisverband gewechselt, weil ihn sein früherer Heimatverband nicht als Delegierten für den Parteitag aufgestellt hatte.

AfD-Umfragewerte weiter zweistellig

Die Corona-Pandemie ist für die AfD Chance und Risiko zugleich. Sie zweifelt die Sinnhaftigkeit der staatlichen Bekämpfungsmaßnahmen an. Mit Blick auf die sehr unterschiedlichen Gruppen, die derzeit gegen die Einschränkungen auf die Straße gehen, könne die AfD die eigene Reichweite ausdehnen, sagt Politikwissenschaftler Schroeder. "Allerdings setzt sie in der Pandemie weder selbst die Themen, noch wäre sie durch besonders pfiffige eigene Vorschläge aufgefallen."

Schroeder ist trotzdem überzeugt, dass ein Abgesang auf die AfD zu früh und voreilig wäre. "Die Partei hat derzeit kein wirkliches Thema, sie ist führungslos und hat viele Konflikte im Inneren - und trotzdem ist die Unterstützung der Wähler vor allem in Ostdeutschland immer noch hoch."

Die AfD werde nicht mehr nur von enttäuschten CDU-Wählern unterstützt, sie sei eine Partei gegen das Establishment geworden. "Es gibt ein Reservoir von bis zu 20 Prozent an Wählern, die die demokratiefeindliche, rassistische Perspektive der Partei zu ihrer eigenen gemacht haben."

Im aktuellen ZDF-Politbarometer steht die AfD bundesweit stabil bei 10 Prozent. In Brandenburg könnte sie bei Landtagswahlen derzeit laut "wahlrecht.de" sogar mit 20 Prozent rechnen. Besonders spannend dürfte es in Thüringen werden, wo die AfD mit der Wahl des FDP-Politikers Thomas Kemmerich zum Kurzzeit-Ministerpräsidenten im Frühjahr einen Eklat auslöste. Im kommenden Jahr soll dort neugewählt werden.

Und die AfD könnte einer Umfrage vom September zufolge derzeit mit 22 Prozent rechnen - genau so viel wie die CDU.

Über den Experten: Prof. Dr. Wolfgang Schroeder hat den Lehrstuhl für das Politische System der Bundesrepublik und Staatlichkeit im Wandel an der Universität Kassel inne. Zudem forscht er in der Abteilung Demokratie und Demokratisierung am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung. 2019 war er Mit-Herausgeber des Buchs "Smarte Spalter - Die AfD zwischen Bewegung und Parlament".

Verwendete Quellen:

  • Gespräch mit Prof. Dr. Wolfgang Schroeder
  • Cicero.de: Gründungsmitglied Konrad Adam - Warum ich aus der AfD austrete
  • Süddeutsche Zeitung 5. Oktober 2020: "Erbärmlich vor die Hunde"
  • Wahlrecht.de: Landtagswahlumfragen
  • Zeit Online: AfD-Spitze will nichts gewusst haben
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