Viele Long-Covid-Betroffene fühlten sich in den vergangenen Jahren alleingelassen. Das soll sich ändern: Gesundheitsminister Karl Lauterbach verkündete jüngst einen "Wendepunkt" in der Versorgung. Kann der Gesundheitsminister halten, was er versprochen hat?

Eine Analyse
Dieser Text enthält eine Einordnung aktueller Ereignisse, in die neben Daten und Fakten auch die Einschätzungen von Julia Wolfer sowie ggf. von Expertinnen oder Experten einfließen. Informieren Sie sich über die verschiedenen journalistischen Textarten.

Vier Jahre nach Beginn der Corona-Pandemie ist Sars-CoV-2 zwar nicht verschwunden, doch in der allgemeinen Risikowahrnehmung rangiert es mittlerweile unterhalb des Grippevirus Influenza. Es ist scheinbar ein Erkältungsvirus wie so viele andere.

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Doch was dabei völlig außer Acht gerät: Rund eine halbe Million Menschen in Deutschland sind dauerhaft oder chronisch an Long Covid beziehungsweise Post Covid erkrankt, darunter auch Kinder und Jugendliche. Und bei jeder zukünftigen Welle werden weitere hinzukommen.

Long Covid und Post Covid

  • Long Covid bezeichnet längerfristige, gesundheitliche Beeinträchtigungen nach einer Sars-CoV-2-Infektion, die über die akute Krankheitsphase hinaus vorliegen. Von Post Covid spricht man, wenn die Beschwerden zwölf Wochen und länger anhalten oder in diesem Zeitraum neu auftreten. Generell lässt sich kein einheitliches Krankheitsbild abgrenzen, da eine Vielzahl von verschiedenen Symptomen – darunter Kurzatmigkeit, Muskelschwäche, Konzentrations- und Gedächtnisprobleme – auftreten können, entweder einzeln oder in unterschiedlichen Kombinationen. Bei einem Teil der Betroffenen zeigt sich auch eine Post-Exertionelle Malaise (PEM), die auch nach anderen Virusinfektionen auftreten kann.

Manche der Betroffenen sind arbeitsunfähig, andere schleppen sich durch den Arbeitsalltag. Long beziehungsweise Post Covid kann in unterschiedlicher Ausprägung auftreten. Warum und was genau dabei im Körper passiert, ist bis heute noch ungeklärt. Auch eine gezielte Behandlung oder Therapie gibt es bislang nicht.

Schwierige Suche nach Ärztinnen und Ärzten

Dabei ist das Krankheitsbild nicht neu: Schon vor der Corona-Pandemie war bekannt, dass Erreger wie das Epstein-Barr-Virus oder Influenza-Viren das chronische Fatigue-Syndrom (ME/CFS) auslösen können. Charakteristisch für dieses Krankheitsbild ist die Post-Exertionelle Malaise (PEM), bei der sich die Symptome schon nach geringfügiger körperlicher oder geistiger Belastung verschlechtern. Von PEM ist auch ein Teil der Post-Covid-Patientinnen und -Patienten betroffen.

"Es ist wirklich Glückssache, an wen Betroffene geraten."

Johanna Theobald, Medizinstudentin

Gängige Rehabilitationsmaßnahmen, wie sie bei anderen Erkrankungen häufig eingesetzt werden, können dann sogar zu einer Verschlechterung des Allgemeinzustands führen. Betroffene sind daher auf Ärztinnen und Ärzte angewiesen, die sich mit dem Krankheitsbild auskennen. So jemanden zu finden, ist aber gar nicht so einfach.

"Es ist wirklich Glückssache, an wen Betroffene geraten", sagt Medizinstudentin Johanna Theobald, die selbst ein Jahr mit Long Covid kämpfte und sich nun in der Betroffenen-Initiative "Long Covid Deutschland" (LCD) engagiert, unserer Redaktion. "Das Wissen ist in den letzten Jahren enorm gewachsen. Es ist aber noch nicht überall angekommen."

Gesundheitsminister Lauterbach verspricht "Wendepunkt"

Nun soll sich die Situation aber zum Besseren wenden: Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) sprach nach dem dritten Runden Tisch Long Covid Mitte April von einem "Wendepunkt" in der Versorgung von Long Covid und versprach: "Wir lassen Betroffene nicht allein.

Der Runde Tisch Long Covid ist ein Forum, in dem sich Betroffene, Patientenverbände, Behandelnde, Forschende, Akteure des Gesundheitswesens und politisch Verantwortliche über erforderliche Maßnahmen in der Versorgung von Long- und Post-Covid-Patientinnen und -Patienten austauschen.

Konkret lag beim dritten Rundentisch Long-Covid der Fokus auf

  • neuen Long-Covid-Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA), die eine schnellere und bedarfsgerechtere Versorgung bei Verdacht auf Long Covid gewährleisten sollen.
  • der Förderung der Versorgungsnahen Forschung durch das Bundesgesundheitsministerium in Höhe von 81 Millionen Euro und weitere Forschung der Bundesregierung.
  • den geplanten Maßnahmen zur Verbesserung der Versorgung von Kindern und Jugendlichen mit Long Covid, für die 52 Millionen Euro bereitgestellt werden.
  • die Förderung weiterer Forschung durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung in Höhe von 59,5 Millionen Euro.
  • der Arbeit einer Expertengruppe, die den Off-Label-Use von Medikamenten untersucht.

Wie sinnvoll sind die geplanten Ansätze?

Doch was ist von den Ankündigungen zu halten? "Das Versprechen, sich für das Thema einzusetzen, hat Herr Lauterbach auf jeden Fall eingelöst", sagt Mia Diekow im Gespräch mit unserer Redaktion, die selbst von Post Covid betroffen ist und sich ebenfalls in der Patienteninitiative "Long Covid Deutschland" engagiert.

Die Förderung der Versorgungsforschung, die den medizinischen Alltag, die Organisation und Steuerung im Gesundheitswesen in den Blick nimmt, sei ein wichtiger Schritt. Grundlagenforschung, etwa zu den Ursachen und Mechanismen von ME/CFS, wird vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) gefördert. Die Höhe der Fördersumme wurde bereits als "unzureichend" kritisiert.

Auch dass explizit Gelder für die Versorgung von Kindern und Jugendlichen reserviert sind, begrüßen sie und ihre Mitstreiterin Johanna Theobald sehr – denn viele Erkenntnisse, die in der Erwachsenenforschung gewonnen werden, lassen sich nicht automatisch auf Heranwachsende übertragen. "Da hätte Minister Lauterbach einen großen Fehler machen können, den er nicht gemacht hat. Das muss man ihm hoch anrechnen", sagt Diekow.

Betroffene setzen große Hoffnung in "Off-Label-Use"

Doch bis erste Ergebnisse aus den Forschungsförderungen tatsächlich in den Praxisalltag einfließen, wird es noch dauern. Schnellere Hilfe verspricht das Expertengremium, das sich mit dem Off-Label-Use von Medikamenten – also dem Einsatz ohne bestehende Zulassung für diesen Zweck – beschäftigt. Im Laufe des Jahres soll eine Liste mit Medikamenten herausgegeben werden, die im Off-Label-Use zur Behandlung von Long Covid eingesetzt werden können.

Die Verschreibung eines in Deutschland zugelassenen Arzneimittels außerhalb der zugelassenen Indikationen ist zwar schon heute möglich, jedoch liegt die haftungsrechtliche Verantwortung dann bei den behandelnden Ärztinnen und Ärzten.

Die Liste des Expertengremiums könne den Behandlern mehr Sicherheit geben, sagt Theobald. "Betroffene setzen sehr große Hoffnung darauf, das hören wir in unseren Selbsthilfegruppen immer wieder." Zwar sei nicht zu erwarten, dass diese Medikamente eine Heilung bringen, doch "der Bedarf nach symptomlindernden Medikamenten ist sehr groß".

Für eine Verbesserung der Situation von Long-Covid-Patientinnen und -Patienten ist aus Sicht der Initiative "Long Covid Deutschland" also eine gute Basis geschaffen. Das Engagement sei da – doch bei der Umsetzung gebe es noch Lücken. Die größte Herausforderung sehen Diekow und Theobald vor allem in der strukturellen Situation in Deutschland.

Die Lage der ambulanten Versorgung ist angespannt, nicht erst seit Corona. Das Arbeitspensum vieler niedergelassener Ärztinnen und Ärzte ist enorm hoch – da bleibe kaum Zeit, Betroffene ausreichend zu untersuchen und zu beraten, geschweige denn, sich proaktiv mit den neuesten Forschungsergebnissen zu Long Covid auseinanderzusetzen.

"Meine erste Anamnese hat fast anderthalb Stunden gedauert - und da hat mir der Arzt noch nichts empfohlen", erzählt Diekow. Diese Realität trifft auf ein System, das nur zehn Minuten für ein Arztgespräch vorsieht. Für bestimmte Erkrankungen, die mehr Zeitaufwand erfordern, können Behandler Zusatzleistungen abrechnen. Für Long Covid gibt es diese Möglichkeit bislang nicht. "Das müsste jetzt zügig kommen, damit Ärztinnen und Ärzte sich Zeit nehmen können und den Aufwand auch bezahlt bekommen", sagt Theobald.

Geld allein löst das Problem nicht

Optimal wäre aus Sicht der Aktivistinnen auch eine Fortbildungspflicht zu Long Covid oder zumindest eine Zertifizierung für standardisierte Fortbildungen, die die Qualifikation der Behandler ausweist. Dafür sei beim dritten Runden Tisch aber noch keine Lösung absehbar gewesen.

"Geld allein ist eben nicht alles. Minister Lauterbach ist letztlich darauf angewiesen, dass alle Institutionen des Gesundheitswesens an einem Strang ziehen", sagt Diekow. "Wie schnell sich strukturell signifikant etwas verbessert, hängt leider noch zu oft von der Initiative und Motivation der einzelnen Akteure ab."

Long Covid: Betroffene kämpfen mit Stigmatisierung

Was sich die Aktivistinnen von "Long Covid Deutschland" wünschen würden, ist eine flächendeckende Aufklärungskampagne, insbesondere über PEM und ME/CFS. Denn neben einer mangelnden medizinischen Versorgung stoßen Betroffene auch in ihrem Umfeld häufig auf Unverständnis - schließlich sieht man den Betroffenen ihre Beeinträchtigungen meist nicht an.

"Die Erkrankung verläuft oft komplex und dynamisch, bei milden und moderaten Verläufen können Erkrankte manchen Alltagstätigkeiten und Verpflichtungen noch nachgehen", sagt Theobald. "Bei PEM geht es ihnen aber schon nach kleiner Überbelastung sehr schlecht. Viele Betroffene leiden darunter, sich immer wieder ihrem Umfeld erklären zu müssen", sagt Theobald.

"In unseren Selbsthilfegruppen hören wir oft, dass Familien, Beziehungen oder Arbeitsverhältnisse daran zerbrechen und Erkrankte stigmatisiert werden", erzählt Diekow. "Viele Menschen glauben, es mangele uns an Willen. Aber das Gegenteil ist der Fall: Wir wollen alle zurück in unser altes Leben. Doch wir brauchen wirksame Therapien."

Die gute Nachricht für Betroffene lautet zumindest, dass Long beziehungsweise Post Covid und ME/CFS endlich von der Politik wahrgenommen werden und dadurch auch das Bewusstsein in der Bevölkerung weiter wachsen dürfte. Das war nicht immer so. "ME/CFS war auch vor der Pandemie nicht selten. Das ist einer der großen Skandale der Medizinhistorie, dass diese Erkrankung bis heute nicht richtig erforscht ist", sagt Diekow. "Das Gute ist: Heute kann eigentlich keiner mehr leugnen, dass es großen Bedarf gibt."

Weitere Informationen

  • Betroffene finden auf der Website bmg-longcovid.de vom Bundesgesundheitsministerium Informationen zum aktuellen Forschungsstand sowie Hilfsangebote, darunter auch Anlaufstellen in Ihrer Umgebung. Auch auf der Website longcoviddeutschland.org finden Sie Informationen rund um Long Covid sowie Selbsthilfegruppen für Betroffene und Angehörige.

Über die Gesprächspartnerinnen

  • Johanna Theobald ist Medizinstudentin und kämpfte selbst ein Jahr mit Long Covid. 2022 gründete sie die erste Long Covid Selbsthilfegruppe in Mainz und engagiert sich heute in der Betroffenen-Initiative "Long Covid Deutschland".
  • Mia Diekow ist Synchronsprecherin, Singer-Songwriterin und Musikproduzentin und seit 2020 an Post Covid beziehungsweise ME/CFS erkrankt. Sie ist eine der Gründerinnen der Betroffenen-Initiative "Long Covid Deutschland".

Verwendete Quellen

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